Freundschaften sind zentraler Bestandteil der sozio-emotionalen Entwicklung und spielen auch für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes eine wesentliche Rolle. Am Beispiel von Nick und seinem besten Freund zeigt sich, wie Freundschaften auch unter schwierigen Umständen funktionieren können.

Serie Teilhabe-Orientierung in der Sozialpädiatrie: Die F-Wörter

Vor 10 Jahren haben Peter Rosenbaum und Jan Willem Gorter den Artikel "The ‘F-words’ in childhood disability: I swear this is how we should think!" [1] veröffentlicht. Die Autoren fassen dabei die wichtigsten Konzepte für Kinder mit chronischer Beeinträchtigung in 6 Worten zusammen: Funktion, Familie, Fitness, Freunde, Fun (Spaß) und Future (Zukunft). In einer Arbeitsgruppe wurde der F-Words-Artikel ins Deutsche übersetzt. Dieser steht – ebenso wie weitere deutschsprachige Materialien – auf der CanChild-Seite als Download zur Verfügung. Die Seite erreichen Sie über den QR-Code oder über https://canchild.ca/en/resources/canchild-german. In der KiPra-Ausgabe 1/2023 erschien ein erster Einführungstext, nun folgen die einzelnen F-Wörter in einer kleinen Serie anhand von Praxisbeispielen. Hier folgt nun das Praxisbeispiel zu dem F-Wort "Freunde".

In der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) bei Kindern und Jugendlichen der WHO [1] werden Freundschaften als "freundschaftliche Beziehungen" bezeichnet und an 3 verschiedenen Stellen aufgeführt (Tab. 1). Im Artikel von Rosenbaum et al. [2] bilden "Freunde" das vierte F-Wort.

Die sozio-emotionale Entwicklung ist von essenzieller Bedeutung für die gesamte Entwicklung des Kindes und stellt die Basis für viele andere Entwicklungsbereiche dar. Freundschaften sind zentraler Bestandteil der sozio-emotionalen Entwicklung und spielen auch für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes eine wesentliche Rolle. Insbesondere, wenn sich die engen familiären Beziehungen zu lockern beginnen und neue Kontakte aus Kindergarten oder der Schule hinzukommen, sind diese neuen sozialen Kontakte wichtig für das Wohlbefinden des Kindes. Freundschaften vermitteln Verbundenheit und Zugehörigkeit, sie helfen bei der sozialen und emotionalen Entwicklung, stärken das Selbstvertrauen und bringen Spaß. In Freundschaften lernen Kinder auf andere einzugehen, die eigenen Bedürfnisse zu äußern und Kompromisse zu schließen [3].

Freundschaften können sich bezüglich Qualität und Quantität unterscheiden. Häufig kommt der Qualität der Beziehungen eine größere Bedeutung zu als der Häufigkeit oder der Anzahl von Freunden [4]. Vielleicht erinnern Sie sich auch noch an Ihre eigenen früheren Freunde und an die Frage, ob eine beste Freundin reicht?

Kindern mit einer Beeinträchtigung fällt es häufig schwerer, Freundschaften zu schließen. Oft fühlen sie sich nicht gleichberechtigt und weniger verstanden [5]. Sie werden von Mitschülerinnen und Mitschülern, Peer Groups oder anderen z. B. gemieden oder aktiv ausgeschlossen und können nicht oder weniger teilhaben.

Wir als Fachpersonen müssen uns fragen, ob wir diesen Bereich der Kindesentwicklung in unsere Diskussionen über Interventionen genug einbeziehen, welche Gründe wir dafür vorgeben und wie wir diesem Thema einen höheren Stellewert einräumen können.

Was kann getan werden, um Kinder zu ermutigen, zu stärken und zu unterstützen, gute und tragfähige Beziehungen zu Gleichaltrigen zu entwickeln und zu pflegen? Für die Entwicklung romantischer Beziehungen und sexueller Aktivität scheinen die Einbindung in Gruppen Gleichaltriger und somit auch die Möglichkeiten von Verabredungen von höherer Bedeutung zu sein als die motorischen Beeinträchtigungen oder das Bildungsniveau, wenn Kinder mit Zerebralparese das Jugend- und junge Erwachsenenalter erreichen [6]. Bereits von Anfang an sollte deshalb im Austausch mit den Eltern und den Kindern die Bedeutung von Freundschaften thematisiert werden und Anregungen und Hilfestellungen gegeben werden, damit Familien und Kinder nicht auf Freunde fürs Leben verzichten müssen.

Ein Beispiel: Nick und sein bester Freund

Nick ist 11 Jahre alt, ein Einzelkind. Als er im Kindergarten einen ersten Wutanfall bekam und dabei eine Glasscheibe kaputt ging, wurde er mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) diagnostiziert und später auch ein halbes Jahr stationär behandelt. Den Schuleintritt erlebte er in einer kleinen Privatschule, die ihm nur gefiel, weil er dort einen Jungen traf, mit dem er sich gut verstand. Endlich jemand mit dem er sich über seine Interessen austauschen konnte, gemeinsam über dieselben Witze lachen konnte und von dem er sich akzeptiert fühlte. Unter diesen Umständen ging er auch gern zu Schule, trotz der zum Teil "stupiden" Aufgaben (Nicks Einschätzung!).

Leider verließ sein Feund aufgrund eines Umzugs die Schule und ab da gefiel es Nick dort nicht mehr. Er fand keinen Ersatz für seinen Freund. Am Tag, an dem seine fristlose Entlassung erfolgte, hatte er morgens zu seinem Vater gesagt: "Du wirst sehen, heute schaff ich es, nicht mehr hierher zu müssen". Der Wutanfall an diesem Tag war gewaltig und so geschah, was geschehen musste. Seit 3 Jahren wird Nick nun durch die Eltern und Privatlehrer zuhause unterrichtet. Nick leidet darunter, dass er kaum mit Kindern zusammen sein kann. Er wird zunehmend frustrierter, selbstbezogener und gereizter: Seine Wutanfälle nehmen zu. Keine guten Voraussetzungen, um eine passende Schule zu finden. Eltern und Therapeuten suchen diverse Möglichkeiten, wie Nick Kinder außerhalb der Schule treffen könnte. Aber Nick ist wählerisch geworden, oder er hat es schlicht verlernt, sich auf andere einzulassen.

Bei Familienferien im Ausland passiert es dann: Nick trifft einen Jungen, mit dem er sich auf Anhieb versteht. "Leider wohnt er 800 km von uns entfernt" äußert der Vater bedauernd nach den Ferien. Nick sei wie verwandelt. Er argumentiere, höre zu und gehe auf den neuen Freund ein. Die Therapeutin rät dem Vater, alles Erdenkliche zu tun, diesen Kontakt aufrechtzuerhalten. Zwei Wochen nach den Ferien fährt der Vater mit Nick den neuen Freund besuchen. Sie bleiben eine Woche und treffen den Jungen so oft es geht außerhalb der Schule.

Seitdem treffen sich die beiden täglich zu festen Uhrzeiten in einem Videochat. Die Eltern haben die gemeinsame Videospielzeit auf 30 Minuten beschränkt. In der verbleibenden Zeit tauschen sich die beiden Jungs über den Tag aus, basteln zusammen und schreiben eine gemeinsame Geschichte. Nick erlebt, dass er die Rolle eines Freundes einnehmen kann. Der regelmäßige Austausch verändert ihn – besänftigt ihn. Er drückt aus, dass er nicht mehr so wütend sein muss, denn er habe nun ja jemanden, der ihn verstehe und mit dem er seinen Frust teilen und lachen könne.

Die Eltern unterstützen diese Kontakte so gut sie können: gegenseitige Besuche, gemeinsame Ferienaufenthalte, Absprachen mit den Eltern des neuen Freundes. Auch therapeutisch wird der Wunsch nach Kontakten mit anderen Kindern aufgenommen. Nick kann in Kleingruppen lernen, sich auf andere Kinder einzulassen. Er beginnt viel über seine Interaktionen zu sprechen. Seit Kurzem besucht er auch eine Klettergruppe. Der Einzelunterricht wird inzwischen in einem Schulzimmer in der Regelschule abgehalten. In den Pausen trifft er Kinder auf dem Pausenplatz. Er erzählt ihnen von seinem besten Freund.

Wesentliches für die Praxis . . .
  • Freundschaften sind zentraler Bestandteil der sozio-emotionalen Entwicklung und spielen auch für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes eine wesentliche Rolle.
  • In Freundschaften lernen Kinder auf andere einzugehen, die eigenen Bedürfnisse zu äußern und Kompromisse zu schließen.
  • Bereits von Anfang an sollte deshalb im Austausch mit den Eltern und den Kindern die Bedeutung von Freundschaften thematisiert werden und Anregungen und Hilfestellungen gegeben werden.
  • Am Beispiel von Nick und seinem besten Freund zeigt sich, wie Freundschaften auch unter schwierigen Umständen funktionieren können.

Literatur
1. World Health Organizsation (WHO) (2007) International Classification of Function-ing, Disability, and Health: Children & Youth Version: ICF-CY, Geneva
2. Rosenbaum P, Gorter JW (2012) The "F-words" in childhood disability: I swear this is how we should think! Child Care Health Dev 38: 457–463. https://doi: 10.1111/j.1365-2214.2011.01338.x
3. Cook A, Ogden J, Winstone N (2018) Friendship motivations, challenges and the role of masking for girls with autism in contrasting school settings. Eur J Spec Needs Educ 33(3): 302–315. https://doi.org/10.1080/08856257.2017.1312797
4. Beristain CM, Wiener J (2020) Finding True Friendships: The Friendship Experiences of Adolescents With Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder. Can J School Psychol 35 (4): 280 – 298. https://doi.org/10.1177/0829573520931679
5. Calder L, Hill V, Pellicano E (2013) ‘Sometimes I want to play by myself’: Understanding what friendship means to children with autism in mainstream primary schools. Autism 17 (3): 296 – 316. https://doi.org/10.1177/1362361312467866
6. Wiegerink DJ, Roebroeck ME, Van der Slot WM, Stam HJ, Cohen-Kettenis PT (2010) Importance of peers and dating in the development of romantic relationships and sexual activity of young adults with cerebral palsy. Dev Med Child Neurol 52: 576 – 582. https://doi.org/10.1111/j.1469-8749.2010.03620.x

Autorinnen:
Beate Krieger, Christina Schulze
[1]    ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften

Korrespondenzadresse
Dr. phil. Beate Krieger

ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Departement Gesundheit
Katharina-Sulzer-Platz 9
CH-8401 Winterthur
Tel.: 00 41/58 934 63 8
E-Mail: krbe@zhaw.ch

Interessenkonflikt
Die Autorinnen geben an, dass es keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag gibt.

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2023; 94 (5) Seite 352-354