Funktion, Familie, Fitness, Freunde, Fun und Future – was hat es mit diesen sechs F-Wörtern in Bezug auf die Zielsetzung von Therapie und Förderung bei Kindern mit chronischer Beeiträchtigung auf sich? Mehr dazu im folgenden Artikel und beim kanadischen Forschungszentrum CanChild.

Serie Teilhabe-Orientierung in der Sozialpädiatrie: Die F-Wörter

"Was ist denn das Ziel dieser Therapie?" fragen wir in unserer Arbeit regelmäßig die Eltern chronisch beeinträchtigter Kinder mit z. B. Zerebralparese oder Autismus. Viele Eltern (und Kinder!) wissen auf diese Frage keine Antwort. Oft sind die Eltern nicht in die Therapien oder Hilfsmittelversorgungen involviert. Wenn Ziele genannt werden, liegen diese meist in der Komponente "Struktur und Funktion" der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF): "Die Spastik soll weniger werden" oder "Die Handfunktion soll sich verbessern".

Definition der F-Words?

Vor 10 Jahren haben Peter Rosenbaum aus Kanada und Jan Willem Gorter aus den Niederlanden einen Artikel veröffentlicht: "The ‘F-words’ in childhood disability: I swear this is how we should think!" [1]. In diesem Artikel fassen die Autoren die wichtigsten Konzepte für Kinder mit chronischer Beeinträchtigung in 6 Worten zusammen: Funktion, Familie, Fitness, Freunde, Fun (Spaß) und Future (Zukunft) – und formulieren, dass diese 6 Konzepte die Zielsetzung von Therapie und Förderung prägen sollten.

Funktion  Familie  Fitness  Freunde  Fun  Future

"Wir erleben im 21. Jahrhundert einen starken Wandel in der Herangehensweise an und das Denken über ‚Behinderungen‘", formulieren die Autoren. "In diesem Artikel verdeutlichen wir Ideen zu einer Reihe von F-Wörtern. Sie beruhen auf der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation. Wir hoffen, dass dies ein guter Weg ist, um diese Konzepte in jeden Aspekt der klinischen Versorgung, der Forschung und der Interessenvertretung in Bezug auf Kinder mit chronischen Beeinträchtigungen und ihre Familien einzubringen."

Diese Herangehensweise verlangt sowohl den im medizinischen Bereich Tätigen als auch den Kindern, Jugendlichen und Eltern einiges an Um- und Weiterdenken ab. Im Mittelpunkt stehen die Ziele der Betroffenen – Kinder, Jugendliche und ihre Familien und das soziale Umfeld: "Was ist Dir im Alltag wichtig? Was gelingt gut und was nicht? Was möchtest Du mit anderen tun?" – diese Fragen zielen auf die Teilhabe-Präferenzen der Kinder und ihrer Familien ab.

Mit den F-Words wurde ein Rahmenkonzept geschaffen, das diese Ziele in den 6 verschiedenen Bereichen gut greifbar werden lässt. Im Rahmen von Part-Child, einer vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) geförderten Initiative zur Verbesserung der Teilhabe-Orientierung in den SPZ, zeigte sich, dass es sich um einen auch im Alltag praktikablen Ansatz handelt. Bei gemeinsamer Formulierung von alltagsrelevanten Therapiezielen stieg die Bedeutung des SPZ für die Familien an. Auch nahm die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden zu. Die gemeinsame Formulierung von alltagsrelevanten Therapiezielen nahm im Rahmen des Projektes zu, Haltung und Verhalten von Fachkräften in SPZ veränderten sich relevant.

Umsetzung im Alltag aller Beiteiligten

Es entstand aber auch ein Bedeutungswechsel mit weitreichenden Konsequenzen für den Alltag sowohl der Fachleute als auch der Patientinnen/Patienten und der Familien: Rosenbaum und Gorter beschreiben, dass Ärztinnen/Ärzte, Therapeutinnen/Therapeuten oder Psychologinnen/Psychologen zwar versiert sind, was die fachlichen Aspekte angeht, die Patientinnen/Patienten und deren Familien aber die Expertinnen/Experten für sich selbst und die jeweiligen Lebensumstände sind. In einem echten dialogischen Prozess wird gemeinsam entschieden, welche Ziele für die (aktuelle und zünftige) Teilhabe des Kindes bedeutsam sind und welche Therapien geeignet sind, die Ziele zu erreichen.

Diese Sichtweise ist im Zeitalter der partizipativen Entscheidungsfindung nicht neu [2]. Der deutliche Alltagsbezug, die Orientierung an den Zielen der Kinder und ihrer Familien und die Einbettung in den Kontext der sozialen Umgebung sind aber anspruchsvolle Veränderungen des bisherigen und noch oft praktizierten professionellen Rollenverständnisses.

So entsteht eine gemeinsame Wirklichkeit, wenn Botulinumtoxin (Funktion), Orthesen (Funktion) und Gehgerät (Funktion) sicherstellen, dass "Leon" mit seiner Cerebralparese gehen (Fitness) und mit seinen Freunden (Friends) besser spielen (Fun) kann – und diese Fähigkeit möglichst lange behält (Future) – und allen Beteiligten klar ist, warum diese Maß-nahmen auf welche Art und Weise ineinandergreifen.

Die Weiterentwicklung des Konzepts ist eines der Themen von CanChild, eines kanadischen Forschungszentrums an der McMaster University. CanChild selbst nennt die Generierung von Wissen und Verbesserung des Lebens von Kindern und Jugendlichen mit Entwicklungsstörungen und ihren Familien als Ziele.

Um die Entwicklung auch in den deutschsprachigen Ländern weiter zu unterstützen, haben wir in einer Arbeitsgruppe aus Österreich, der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie (DGSPJ) für Deutschland und der Schweiz zunächst den F-Words-Artikel übersetzt. Dieser steht auf der CanChild-Seite als Download zur Verfügung. Zusätzlich wurden auch Merkblätter von CanChild zum familienzentrierten Ansatz übersetzt, die ebenfalls im Bereich "Can-Child-German" als Download zur Verfügung stehen.

Wesentliches für die Praxis . . .

In den nächsten Ausgaben werden wir die einzelnen F-Words anhand von Fallbeispielen darstellen und freuen uns über Kommentare, Zuschriften und vor allem Berichte über die Umsetzung im Alltag.

Am CanChild Centre sind weitere sehr durchdachte und zugleich alltagspraktische Handreichungen und Materialen entwickelt worden, die auch bei uns sehr hilfreich sein können. Wer sich an der Arbeitsgruppe beteiligen möchte, um weitere Materialien zu übersetzen und im deutschsprachigen Raum zur Verfügung zu stellen, kann sich gerne bei Peter Borusiak ( peter.borusiak@lvr.de ) oder Christina Schulze ( sina@zhaw.ch ) melden.


Literatur
1. Rosenbaum P, Gorter, JW (2012) The ‘F-words’ in childhood disability: I swear this is how we should think! Child Care Health Dev 38: 457 – 463 https://doi.org/10.1111/j.1365-2214.2011.01338.x


Autoren:
Peter Borusiak [1], Thomas Becher  [2], Gisa Müller-Butzkamm  [3], Katja Kessler-Thomanek [4], Susanne Katzensteiner [5], Thorsten Langer [6], Beate Krieger [7], Christina Schulze [7]
[1]    Kinderneurologisches Zentrum Bonn;
[2]    Kinderneurologisches Zentrum Gerresheim;
[3]    SPZ Westmünsterland;
[4]    SPZ Leverkusen;
[5]    Ambulatorium f. Entwicklung- u. Sozialpädiatrie Amstetten der VKKJ;
[6]    Klinik für Neuropädiatrie und Muskelerkrankungen, Universitätsklinikum Freiburg;
[7]    ZHAW – Züricher Hochschule für Angewandte ­Wissenschaften, Winterthur, Schweiz

Korrespondenzadresse
CA Prof. Dr. med. Peter Borusiak

LVR-Klinik Bonn
Kinderneurologisches Zentrum
Waldenburger Ring 46
53119 Bonn
Tel.: 02 28/66 83-111
Fax: 02 28/66 83-139

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2023; 94 (1) Seite 42-43