Die wichtigsten Konzepte für Kinder mit chronischer Beeinträchtigung lassen sich in 6 Worten zusammen: Funktion, Familie, Fitness, Freunde, Fun (Spaß) und Future (Zukunft). Der folgende Text erklärt das F-Wort „Funktion“ und seine Bedeutung anhand eines Praxisbeispiels.
- KiPra 1/2023 Einführungstext
- KiPra 2/2023 Funktion
- KiPra 3/2023 Familie
Vor 10 Jahren haben Peter Rosenbaum und Jan Willem Gorter den Artikel "The ‘F-words’ in childhood disability: I swear this is how we should think!" [1] veröffentlicht. Die Autoren fassen dabei die wichtigsten Konzepte für Kinder mit chronischer Beeinträchtigung in 6 Worten zusammen: Funktion, Familie, Fitness, Freunde, Fun (Spaß) und Future (Zukunft). In einer Arbeitsgruppe wurde der F-Words-Artikel ins Deutsche übersetzt. Dieser steht – ebenso wie weitere deutschsprachige Materialien – auf der CanChild-Seite als Download zur Verfügung. Die Seite erreichen Sie über https://canchild.ca/en/resources/canchild-german.
In der KiPra-Ausgabe 1/2023 erschien ein erster Einführungstext, nun folgen die einzelnen F-Wörter in einer kleinen Serie anhand von Praxisbeispielen.
Funktion bezieht sich auf das, was Menschen tun. Kinder mit chronischen Beeinträchtigungen haben oft ähnliche Bedürfnisse wie alle anderen Kinder auch: Sie wollen Teil der Gruppe sein, mittun und ihre Anteile zum kindlichen Spiel beitragen. Dieses "Eingebundensein in eine Lebenssituation" im Sinne von "dazugehören" wird als Teilhabe beschrieben.
Die Handlungsbedingungen der Kinder mit Beeinträchtigungen für das Erreichen der Ziele sind aber andere: Sie haben ein motorisches Defizit, verstehen nicht so schnell und nicht so viel wie andere, können nicht so gut sprechen oder Handlungen planen. Andere sind sehr schnell abgelenkt oder haben Schwierigkeiten im Kontakt mit anderen Kindern oder Erwachsenen.
Iona Novak [3] hat in einem vielbeachteten Review zur Therapie von Kindern mit Zerebralparese herausgearbeitet, dass nahezu alle nach Studienlage wirksamen Methoden im motorischen Bereich gemeinsame Merkmale aufweisen:
- Die Einübung von Aufgaben und Aktivitäten aus dem realen Leben unter Verwendung selbst erzeugter aktiver Bewegungen mit hoher Intensität. Die Übung ist direkt auf das Erreichen eines vom Kind (oder ggf. einer Elternvertretung) gesetzten Ziels ausgerichtet.
- Der Wirkmechanismus ist die erfahrungsabhängige Plastizität. Motivation und Aufmerksamkeit sind wichtige Modulatoren der Neuroplastizität.
- Erfolgreiches aufgabenspezifisches Üben ist für Kinder lohnend und macht ihnen Spaß, sodass sie spontan regelmäßig handeln.
Theoriebildung und empirische Daten sprechen dafür, dass Lernen, insbesondere motorisches Lernen, bei Kindern mit Beeinträchtigung auf ähnliche Weise gelingt wie bei Kindern ohne Beeinträchtigung. "Es ist klar, dass Lernen die Grundlage für die Wiederherstellung von Funktionen und die Entwicklung neuer Fähigkeiten bei neurologischen und anderen Behinderungen ist" ([4] S. 22). Dabei spielen die Angemessenheit der Aufgabe und die Passung der Umgebung, die intrinsische Motivation und die eigene Strategie-Entwicklung des Kindes eine große Rolle. Lernen ist dabei definiert als die dauerhafte Änderung von Verhalten, Fertigkeiten und Wissen. Umweltfaktoren wie Therapeutinnen/Therapeuten und Eltern können unterstützend oder hindernd wirken.
Es ist eine wichtige und sinnvolle therapeutische Haltung, das Kind in der Entwicklung eigener Strategien zu unterstützen. Ziel ist dabei immer, dass es sich als erfolgreich handelnder Mensch in der Welt erlebt und so ein starkes Selbstkonzept und eine positive Selbstwirksamkeits-Erwartung entwickelt. Denn dann wird das Kind auch in Zukunft an neue Herausforderungen, die neue und andere Strategien erfordern, mutig und zuversichtlich herangehen, Erfolge erzielen und mit Misserfolgen besser umgehen können
Selbstwirksamkeit ist definiert als die Überzeugung, aufgrund eigener Kompetenzen gewünschte Handlungen erfolgreich ausführen – bzw. in einer bestimmten Situation die angemessene Leistung erbringen zu können. Eigenes aktives Handeln und das Meistern einer schweren Aufgabe, die Beobachtung einer Modellperson bei einer Handlung sowie Selbstinstruktionen wie "Ich kann das!" sind nach Bandura wesentliche Quellen der Selbstwirksamkeit – Therapeutinnen und Therapeuten sollten diese Grundlagen kennen und beachten [5].
So ist die Vereinbarung vom Kind (mit-)bestimmter, alltagsrelevanter Therapieziele die ideale Basis für direkte Erfahrungen und für einen Übertrag neuer motorischer Fertigkeiten in den Alltag. Dabei sind Ansätze motorischen Lernens gleichwertig zu aktiven Modifikationen der Umgebung: "Ein Therapieansatz, der mehr auf die Veränderung der Aufgabe und der Umwelt fokussiert als auf die Beeinträchtigungen des Kindes, kann eine veritable Behandlungsstrategie sein." [6], "kind- und kontextfokussierte Therapieansätze sind gleichermaßen effektiv [7, 8].
Ein Beispiel: Ines und ihre Ziele
Ines ist 13 Jahre alt, hat eine zerebrale spastische Bewegungsstörung und, so sagt sie selbst, "sitzt im Rollstuhl". Ihr Ziel ist es, kurze Strecken allein zu laufen und nicht mehr so oft zu stolpern. Dazu hat sie sich "entschlossen, eine OP zu machen." In der gemeinsamen neuroorthopädisch-neuropädiatrischen Sprechstunde werden die Ziele genau besprochen. Ines erweitert diese dann noch um das wichtige Ziel, mit ihren Freundinnen einen Nähkurs zu machen. Aus diesem Beratungsgespräch ergibt sich ein Handlungsplan mit Operation, Anpassung neuer Orthetik und einer poststationären Rehabilitation, der gemeinsam besprochen und vereinbart wird. Die intrinsische Motivation wird sehr deutlich. Die Operationsoption (eine Myofasziotomie an selektiven Muskeln der oberen und unteren Extremitäten) wird altersgerecht erklärt, offene Fragen werden beantwortet. Es wird auch besprochen, was nicht erreicht werden kann (z. B. freies Gehen über mehr als 10 m).
Acht Monate nach der OP berichtet Ines stolz, dass sie weniger, "eigentlich gar nicht mehr" stolpere, sie kurze Strecken in der Wohnung und in der Schule frei gehen könne. Ganz wichtig ist ihr, dass sie mit ihren Freundinnen in der Ferienfreizeit einen Nähkurs gemacht hat – und dabei einige schöne Dinge genäht hat.
Die Mutter ergänzt, dass Ines natürlich motorische Fortschritte gemacht habe. Noch wichtiger sei ihr aber, was sich in Ines‘ Persönlichkeit verändert habe: "Sie ist selbstbewusster, sie traut sich Sachen, sie macht auch Sachen – und sie hat Ideen und ist kreativ." Dem stimmt Ines strahlend zu.
Diese Entwicklung war auch für das Behandlungsteam eine sehr schöne Erfahrung. Die Orientierung therapeutischer Handlungspläne an den Zielen des Kindes und der Familie führt ganz nebenbei oft auch zu einer besseren Selbstwirksamkeits-Erfahrung der (be-)handelnden Fachleute – und erhöht so die Arbeitszufriedenheit.
- Lernen, insbesondere motorisches Lernen, gelingt bei Kindern mit Beeinträchtigung auf ähnliche Weise wie bei anderen Kindern.
- Es ist eine wichtige und sinnvolle therapeutische Haltung, das Kind in der Entwicklung eigener Strategien zu unterstützen.
- Die Orientierung therapeutischer Handlungspläne an den Zielen des Kindes und der Familie erhöht oft auch die Arbeitszufriedenheit der
[1] | Kinderneurologisches Zentrum Gerresheim, Sana Krankenhaus Düsseldorf-Gerresheimt; | |
[2] | Klinik für Neuroorthopädie, DRK Kinderklinik Siegen |
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2023; 94 (2) Seite 126-127