Jugendmedizin in Deutschland - zu diesem Thema hat die Kommission Jugendmedizin der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) eine Bestandsaufnahme vorgenommen. Diese wird in 4 Beiträgen und einer Einführung veröffentlicht. Im Folgenden lesen Sie den Teil 3.

1968 wurde das erste Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) in Deutschland gegründet. Inzwischen gibt es deutschlandweit über 150 solcher Zentren. Die Zusammensetzung der im SPZ betreuten Kinder und Jugendlichen hat sich allerdings in den vergangenen 5 Jahrzehnten verändert:

SPZ-Historie: Entwicklung von 1968 bis heute

Zu Beginn lag der Fokus überwiegend auf den schwerstmehrfachbehinderten Kindern mit vor allem neuropädiatrischem und therapeutischem Bedarf. Inzwischen werden in den SPZs zusätzlich viele Kinder und Jugendliche mit sozio-emotionaler Problematik betreut. So steigt die Patientenzahl deutschlandweit kontinuierlich an.

Dies führt zu Verschiebungen im Alters- und im Diagnosespektrum: In früheren Jahren wurden in den SPZs überwiegend jüngere Kinder im Säuglings-, Kleinkind- und Kindergartenalter behandelt. Nun stellen die Schulkinder im Alter von 6 bis 13 Jahren mit knapp 62 % deutschlandweit den Hauptanteil der im SPZ betreuten Kinder und Jugendlichen. In Relation sind nur noch 28 % der SPZ-Patienten jünger als 6 Jahre. Aktuelle deutschlandweite Daten belegen: Knapp 50 % aller SPZ-Diagnosen betreffen das ICD-10-Spektrum F90-F98 = Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend. Der Anteil der Patienten mit infantiler Zerebralparese beträgt 5,6 %, der mit Epilepsie 8,2 %. 13,2 % haben eine Intelligenzminderung gemäß IDC-10 F70-79, 6,1 % eine Autismus-Spektrum-Störung gemäß F84.

In den Sozialpädiatrischen Zentren arbeiten multiprofessionelle Teams bestehend aus Ärzten, Psychologen, Sozial-, Heilpädagogen, Therapeuten (v. a. Physio-, Ergotherapeuten und Logopäden), Pflege- und Bürokräften. Analog zum erweiterten Patientenklientel hat sich die Teamzusammensetzung in den letzten Jahren verändert: In früheren Jahren arbeiteten nur wenige psychologisch-pädagogische Kollegen in Sozialpädiatrischen Zentren. Inzwischen stellt die psychologisch-pädagogische Berufsgruppe nahezu deutschlandweit den größten Anteil eines SPZ-Teams.

Aktuelle SPZ-Situation der Jugendlichen

Deutschlandweit sind nur ca. 10 % der SPZ-Patienten im jugendlichen Alter, also älter als 13 Jahre. Die Mehrzahl dieser Jugendlichen ist aufgrund neurologischer und/oder syndromaler Erkrankungen mit Behinderung bereits seit dem jungen Kindesalter in SPZ-Betreuung. Einen weiteren bedeutenden Anteil bilden älter werdende Schulkinder mit einfachen oder komplexen Aufmerksamkeits- und assoziierten Teilleistungsstörungen. Hingegen stellen sich nur wenige Jugendliche mit Neumanifestationen organischer oder psychischer Erkrankungen in den SPZs vor.

Laut KIGGS-Studie haben mehr als 15 % der Jugendlichen chronische körperliche und psychische Erkrankungen oder zumindest Belastungen. Die aktuellen Daten belegen, dass nur ein geringer Anteil dieser Jugendlichen in Betreuung eines Sozialpädiatrischen Zentrums ist.

Weiterer Optimierungsbedarf

Zur Optimierung der Transition bedarf es Diagnose-übergreifend interdisziplinär noch einer wesentlich besseren Vernetzung zwischen den Sozialpädiatern und den erwachsenenmedizinischen Kollegen.

Darüber hinaus müssen in der Ausbildung aller SPZ-Professionen die besonderen Belange von Jugendlichen noch intensiver berücksichtigt werden. Dies betrifft sowohl die fachlich-inhaltlichen Aspekte als insbesondere auch die Kommunikation. Die Betreuung von Jugendlichen erfordert sehr viel Gespür für eine ausgewogene Balance zwischen dem Anrecht auf Selbstbestimmung einerseits und der Gefahr von Überforderung andererseits. Man muss individuell immer wieder abwägen, wie viel Verantwortung man den Jugendlichen selbst für Medikation und Therapie zumuten kann oder inwieweit ergänzend noch erwachsene Bezugspersonen einbezogen werden müssen. Darüber hinaus muss man auch die mit der Autonomieentwicklung verbundenen elterlichen Sorgen im Blick haben. Dies erfordert Routine und Sicherheit im Perspektivwechsel. Ein weiterer großer Schulungs- und Ausbildungsbedarf betrifft die Sexualberatung (einschließlich Kontrazeption).

Gesamtgesellschaftlicher Aspekt

Um den besonderen Bedürfnissen von Jugendlichen umfassend gerecht zu werden, bedarf es eines gesamtgesellschaftlichen Handelns. Kinder und Jugendliche bilden das höchste Gut einer Gesellschaft. So müssen wir ihnen optimalen Raum zur Entfaltung ihres Potenzials schaffen. Dies kann nur gelingen, wenn eine Gesellschaft auch bereit ist, die Perspektive von Jugendlichen einzunehmen.

Zu den anderen Teilen der Bestandsaufnahme „Jugendmedizin in Deutschland“:


Korrespondenzadresse
Dr. Mechthild Pies
Chefärztin SPZ und MZEB
Klinikum Frankfurt-Höchst
Tel.: 0 69/31 06 21 72
E-Mail: mechthild.pies@klinikumfrankfurt.de

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (4) Seite 113