Jugendmedizin in Deutschland - zu diesem Thema hat die Kommission Jugendmedizin der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) eine Bestandsaufnahme vorgenommen. Diese wurde in 4 Beiträgen und einer Einführung veröffentlicht. Im Folgenden lesen Sie den Teil 4.

2018 beschloss die Gesundheitsministerkonferenz das Leitbild für einen modernen Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) – "Der ÖGD: Public Health vor Ort" (www.bvoegd.de/leitbild/). Mit diesem Leitbild wird der ÖGD als ein zentraler Akteur der öffentlichen Sorge um die Gesundheit aller (Public Health vor Ort) definiert. Er hat sich um die Bevölkerung als Ganzes zu kümmern, zusätzlich mit einem besonderen Augenmerk auf vulnerable Gruppen, die häufig nicht ausreichend psychosozial und medizinisch versorgt sind. Für den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst (KJGD) sind dies insbesondere Kinder und Jugendliche aus psychosozial benachteiligten Familien, Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen bzw. einer Behinderung, psychisch erkrankte Jugendliche, aber auch Kinder und Jugendliche von psychisch- und suchtkranken Eltern. Daher hat der ÖGD auch beratende Leistungen in allen Bereichen der Politik und des Gemeinwesens (Health in All Policies) zu erbringen, damit Unterstützungsangebote für besondere Zielgruppen – unter Beteiligung der Betroffenen – passgenau entwickelt und umgesetzt werden.

Aufgaben des ÖGD in der Jugendmedizin

Nachfolgend sind die relevanten Themenfelder aufgeführt, die im KJGD "in Kenntnis der örtlichen Bedingungen" und "frei von eigenen finanziellen Interessen" je nach gesetzlicher Grundlage in der Regel durch Fachärztinnen und Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin oder Öffentliches Gesundheitswesen gemeinsam mit einem multiprofessionellen Team konkret im Bereich der Jugendmedizin umgesetzt werden (Tab. 1). Dieses Team besteht beispielsweise aus medizinischen Fachangestellten, sozialmedizinischen Assistenten, Präventionsfachkräften, (Familien-)Gesundheits- und Kinderkrankenpflegern, evtl. auch aus Therapeuten, Sozialpädagogen, Kinder- und Jugendpsychiatern und Gesundheits- und Sozialwissenschaftlern u. a. für die Gesundheitsberichterstattung. Mit dem vom BMG 2021 beschlossenen "Pakt für den ÖGD" besteht die Chance, auch diesen Bereich zu stärken.

Tab. 1: Übersicht über die Anlässe, wann Jugendliche im Kinder- und Jugendärztlichen Dienst untersucht, beraten und evtl. auch begutachtet werden:
Untersuchung, Beratung und Begutachtung von Jugendlichen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen; Beratung auch der Erziehungsberechtigten zu sämtlichen Maßnahmen der Integration, Inklusion, behindertengerechten Versorgung sowie des Abbaus von Barrieren – im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes/der Eingliederungshilfe nach SGB IX, SGB XII, BTHG und SGB VIII. Diese wichtige Funktion des KJGD gelingt durch eine gute Kenntnis der Versorgungsmöglichkeiten und Angebote vor Ort.
Untersuchung, Beratung und Begleitung von Schulkindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf; je nach gesetzlichen Grundlagen der Schulgesundheitspflege regelmäßige Betreuung der Jugendlichen in den Förderschulen und integrativ/inklusiv arbeitenden Schulen. Dies gilt insbesondere vor dem Übergang in eine berufsvorbereitende Betreuung – ein Teil der Transition.
Untersuchung und Beratung sowie Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen bzw. Schule bei der Differenzialdiagnose des schulvermeidenden Verhaltens; Vermittlung im Rahmen der Kenntnis der örtlichen bzw. regionalen Angebote zu Maßnahmen der Jugendhilfe oder der ambulanten wie stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie. Mehr als die Hälfte der in der Regel von den Schulen vorgestellten Jugendlichen hat die Schule mehrere Wochen nicht besucht und ist psychisch krank!
Untersuchung, Beratung und Begutachtung im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes, einschließlich der Sicherung der Ansprüche, insbesondere für Jugendliche nach den §§ 4 und 6 des AsylbLG, was für mindestens die ersten 15 Monate des Aufenthaltes in Deutschland gilt. Gleichzeitige Betreuung der Jugendlichen und ihrer Familien und die Vermittlung in andere integrierende Maßnahmen sowie die Aufnahme in eine angemessene Schulform
Untersuchung, Beratung und Begutachtung von sogenannten Seiteneinsteigenden in das deutsche Schulsystem in Analogie zu den Schuleingangsuntersuchungen – für alle Jugend­lichen, die nach Deutschland kommen
Schulgesundheitsuntersuchungen von Jugendlichen in der 6. (z. B. in Sachsen) oder 8. Jahrgangsstufe (z. B. Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen) oder vor Schulentlassung (z. B. in Brandenburg kombiniert mit der Untersuchung nach Jugendarbeitsschutzgesetz)
„Betriebsmedizinische“ Betreuung von Schulkindern vor Ort, wenn möglich, in Zusammen­arbeit mit Schulgesundheitsfachkräften (siehe Modellprojekt „Schulgesundheitsfachkräfte an öffentlichen Schulen in Brandenburg und Hessen“)
Konkrete und regelmäßige (meist im Zweijahresabstand) Begleitung von Jugendlichen in den Förderschulen, z. B. in den Förderschulen für „Geistige Entwicklung“ sowie für „Körperliche und motorische Entwicklung“ – gemeinsam mit anderen Fachrichtungen (je nach Behinderung, z. B.: Pädaudiologie, Augenheilkunde, Orthopädie)
Untersuchung, Beratung und Begutachtung von Schulkindern zu zahlreichen Anlässen meist im Auftrag der Schulaufsicht bei diversen Fragestellungen wie Schulsportbefreiung, Übernahmen zu Schülerfahrkosten etc.

Für die Kinder- und Jugendärzte im ÖGD bilden die Jugendlichen aus psychosozial benachteiligten Familien mit über längere Zeit bestehenden Misserfolgen, Schulschwierigkeiten, umschriebenen Entwicklungsstörungen, grenzwertiger Begabung und fehlender Unterstützungsmöglichkeit eine Gruppe, für die die Kooperation mit Schule, Jugendhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie und den Pädiatern aus Praxis, SPZ und Klinik eine zwingende Voraussetzung ist. Nach den zweijährlich aktualisierten Berufsbildungsberichten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) blieben im Jahr 2017 mehr als 52.000 Jugendliche ohne Schulabschluss (6,3 % des Jahrgangs). Nach dem Jugendausbildungsreport (DGB) blieben 146.000 Jugendliche und junge Erwachsene 2018 ohne einen Ausbildungsabschluss, was etwa 15 % der jungen Erwachsenen eines Jahrganges bedeutet – Jahr für Jahr. Die Probleme dieser jungen Menschen lassen sich schon in jungen Jahren erahnen, aber ab dem Schulbeginn tauchen genau diese Kinder und später die Jugendlichen in den Praxen kaum noch auf. Die Teilnahmerate an der J1 ist in Abhängigkeit von Bildungsferne und sozialen Belastungen im Elternhaus noch deutlich geringer als im Gesamtdurchschnitt. Aus den Bundesländern, in denen noch regelmäßige Untersuchungen auch höherer Schuljahrgänge untersucht werden, ist die mangelnde medizinische Versorgung der Jugendlichen belegt.

"Public Health vor Ort" ernsthaft umsetzen

Anstatt diese Schuluntersuchungen als tatsächliche schulärztliche Tätigkeit vor Ort zumindest in den Schulformen mit benachteiligten Schülerinnen und Schülern und in entsprechenden Sozialräumen auszubauen, geht die aktuelle Entwicklung noch Richtung Abbau dieser nachweislich sozialkompensatorischen Aufgaben eines "Public Health vor Ort". Erschreckend ist die unzureichende Versorgung dieser Jugendlichen: die J1 ist selten durchgeführt, Impfungen sind unvollständig, chronische Erkrankungen sind nicht diagnostiziert oder nicht ausreichend behandelt.

Auf der anderen Seite bleiben Jugendliche mit erheblichen psychosomatischen Beschwerden oder psychischen Erkrankungen der Schule fern. Bei Depressionen, Angststörungen, sozialen Phobien oder anderen jugendpsychiatrischen Krankheitsbildern ist eine enge Kooperation mit den Kinder- und Jugendpsychiatern aus Praxis und Klinik sinnvoll. Kenntnisse der rechtlichen Möglichkeiten von gesundheitlicher und psychosozialer Unterstützung der Kinder und Jugendlichen sind notwendig. Es fällt den Kinder- und Jugendärztinnen des ÖGD leichter, die Anforderungen und die Sprache der anderen Partner innerhalb der Kommune und den nach SGB VIII, SGB IX und XII bzw. dem BTHG ja primär zuständigen Ämtern zu erfüllen und zu verstehen.

Zu den anderen Teilen der Bestandsaufnahme „Jugendmedizin in Deutschland“:


Korrespondenzadresse
Dr. Gabriele Trost-Brinkhues
An der Rast
52072 Aachen

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (5) Seite 186-187