Jugendmedizin in Deutschland - zu diesem Thema hat die Kommission Jugendmedizin der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) eine Bestandsaufnahme vorgenommen. Diese wird in 4 Beiträgen und einer Einführung veröffentlicht. Im Folgenden lesen Sie den Teil 2.
Der tatsächliche Versorgungsgrad und die Erreichbarkeit von Jugendlichen für die ambulante Pädiatrie sind unzureichend. Die Abrechnungsdaten der ambulanten Versorgung belegen eine abnehmende Teilnahme an den Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen von fast 100 % im ersten Lebensjahr bis hin zur Jugendgesundheitsuntersuchung J1 mit einer Teilnahmerate von etwa 50 %. Bei einer Analyse des LGL Bayern wurde nachgewiesen, dass der Hälfte aller Eltern und Jugendlichen diese J1-Untersuchung unbekannt war und die Teilnahme durch entsprechende individuelle und übergreifende Informationen gesteigert kann. Neben zahlreichen landesspezifischen Versuchen zur Steigerung der Teilnahmerate sollte es für jeden Jugendmediziner Ansporn sein, das eigene Praxismanagement auf diese Herausforderung auszurichten.
Die Nutzung von Fortbildungsangeboten – auch des BVKJ – zu den verschiedenen Bereichen der Jugendmedizin, zur psychosomatischen Grundversorgung, zu gezielten Themen aus dem breiten Spektrum zum Umgang mit Jugendlichen anstelle der Eltern sind dringend zu empfehlen.
Bedarfsanforderungen für das Praxismanagement
Zum Einstieg in diesen wesentlichen Teilbereich der Pädiatrie bedarf es aktueller medizinischer Kenntnisse in allen Teilbereichen, des sicheren Umgangs mit psychosozialen Anamneseverfahren und erheblicher Fähigkeiten in der motivierenden Gesprächsführung. Viele Kolleginnen und Kollegen "wachsen" mit den älter werdenden ersten Praxispatienten in die Jugendmedizin hinein, es bedarf aber einer aktiven Gestaltung des Settings mit Jugendlichen in der Praxis. Jugendspezifische Anmeldemöglichkeiten, Terminvergabe, geringe Wartezeit sowie im Umgang mit Jugendlichen erfahrene Mitarbeiter. Zudem ein entsprechend jugendspezifisch ausgerichtetes Warte- und Behandlungszimmer, in denen nicht der Eindruck von kleinkind- oder gar mütterorientierter Medizin gegeben ist. Die Zeit, die Gesprächsführung und die Empathie, die dem Jugendlichen durch das Praxisteam und vom Arzt oder der Ärztin entgegengebracht wird, entscheiden über den Erfolg auf beiden Seiten.
Konzepte zur Implementierung der Jugendmedizin in den Praxen
Ein gelingender Einstieg in die Jugendmedizin und ein dauerhafter Erfolg fußt auf 4 Säulen: Haltung, Beziehung, Wissen und Können.
Jugendmedizin gelingt nur mit einer entsprechenden Haltung. Werden die Jugendlichen in den Praxen als "lästig" und "Babys den Platz wegnehmend" empfunden, wird die Praxis mit Sicherheit keinen jugendmedizinischen Schwerpunkt etablieren. Wer jedoch Jugendliche mit ihren Belangen als Bereicherung der eigenen Tätigkeit empfindet, wird es viel leichter haben, Jugendliche an die Praxis zu binden. Denn die Zugewandtheit ist die Grundlage für eine Beziehung zu unseren jugendlichen Patienten.
Viele Jahre galt der Jugendmedizinkongress des BVKJ in Weimar als der Treffpunkt aller Jugendmediziner, um das spezifische Wissen zu jugendmedizinischen Themen zu aktualisieren und sich mit besonderen Schwerpunkten der Jugendmedizin zu beschäftigen. Neben den Schnittmengen zur Kindermedizin bildet die Jugendmedizin ein eigenes, vielfältiges und spannendes, weiteres Themenfeld ab. In der Nachfolge zu dem – nicht mehr ausreichend besuchten – mehrtätigen Kongress wird es in Zukunft dezentrale Tagesveranstaltungen zu den vielfältigen Anforderungen an Wissen zur Jugendmedizin geben.
Und nicht zuletzt entscheidet das Können, ob die Feinfühligkeit, die adäquate – sich auf das Gegenüber beziehende, personenzentrierte – Gesprächsführung gelingt. Hier gilt das "motivational interviewing" als ein geeignetes "Handwerkszeug" – mit dem Stellen offener Fragen, dem "aktiven Zuhören", mit dem Reflektieren bzw. Spiegeln des Gesprächsinhaltes sowie dem Bestätigen und Zusammenfassen. Ohne die Entwicklung dieser Fertigkeiten wird es nicht gelingen, die eigentlichen Fragen und Probleme des Jugendlichen wahrzunehmen und entsprechende Lösungsansätze gemeinsam bzw. partizipativ zu entwickeln.
Eine weitere wichtige Aufgabe ist der Aufbau eines Impfmanagements, denn viele Impflücken bei Erwachsenen hatten ihren Beginn in späterer Kindheit und Jugend.
Fehlende Zeit für Jugendliche – ein politisches Thema
Über die Praxis-App des BVKJ, alternativ einfach über SMS, können wir Jugendliche erreichen, informieren und um Kontaktaufnahme zur Praxis bitten. So kann auch die praxisindividuelle Vorsorgequote bei J1 und J2 sehr gut gesteigert werden, vorausgesetzt, man will das überhaupt. Das größte Hindernis beim "Wollen" ist die fehlende Zeit – und das ist ein politisches Thema. Jugendliche sind nicht einfach nur ein anstrengendes Anhängsel unserer Gesellschaft (Motto: "Augen zu und warten, bis sie erwachsen sind"), sondern stellen unsere gesellschaftliche Zukunft dar. Die Gesundheitsvorsorge bei Jugendlichen wirkt sich nicht nur kurzfristig auf deren Wohlbefinden aus, sondern strahlt weit in das Erwachsenenalter hinein. Jugendmedizin benötigt Ressourcen, nicht nur in der Klinik, im SPZ, im ÖGD, sondern auch in der Niederlassung. Zu Zeiten, wo es – je nach Region – schon schwer ist, einen Pädiater für die U3 zu finden, ist Jugendmedizin umso schwerer zu realisieren. Wir wollen Jugendmedizin in unseren Praxen. Wir sehen Jugendmedizin allerdings nicht als Hobby an, sondern als Teil unserer beruflichen Aufgabe.
- Einführung
- Teil 1: Jugendmedizin in deutschen Kinderkliniken
- Teil 2: Jugendmedizin in der pädiatrischen Praxis
- Teil 3: Jugendmedizin in Sozialpädiatrischen Zentren
- Teil 4: Jugendmedizin im ÖGD
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (5) Seite 184-186