"Die Forderung 'safety first' mag grundsätzlich richtig sein, jedoch erkämpfen wir diese Sicherheit mit Verlust an Freiheit", findet Kinderarzt Stephan H. Nolte und nennt dazu Beipiele auch der Pädiatrie.

Welche Freiheit zum Risiko haben wir, und welche wird einem Kind zugestanden? Welche Freiheit haben wir, uns gar in Lebensgefahr zu bringen? Motorradfahrer und Extremsportler gehen ebenso wie Raucher und Übergewichtige selbstverständlich davon aus, dass gesellschaftlich von Krankenkasse bis zur Sozialversicherung höhere Risiken toleriert und finanziell mitgetragen werden. Selbst Suizid ist nicht strafbar und wird selbstverständlich auch behandelt, wenn er misslingt.

Das Problem in der Pädiatrie ist: Risiko für wen? Wird nur derjenige gefährdet, der selbstbestimmt das Risiko eingeht, liegt also Eigengefährdung vor? Oder sind Dritte betroffen: Fremdgefährdung? Diese Grenzen sind unscharf, weil Eigengefährdung Fremdgefährdung nach sich ziehen kann, etwa bei schwierigen Rettungsaktionen. Grundsätzlich müssen wir bei Eigen- und Fremdgefährdung handeln, da es nicht nur Gemeinwohlanliegen, sondern auch unser ärztlicher Auftrag ist, Menschen davor zu bewahren, sich selbst und anderen Schaden zuzufügen.

Selbstgefährdendes Verhalten kann als grundrechtlich geschützte Freiheit gesehen werden, kann aber daraus auch ein Recht auf Risiko abgeleitet werden? Es ist nicht nur ärztlicher Auftrag, Menschen davor zu bewahren, sich selbst Schaden zuzufügen. Auch der Gesetzgeber schützt den Menschen vor Risiken: So wurde der Sicherheitsgurt im Auto ebenso Pflicht wie das Tragen eines Helmes für Motorradfahrer. Einerseits wird somit die persönliche Risikobereitschaft immer mehr eingeschränkt, andererseits lassen Diskussionen um Fahrrad- und Skihelme oder Forderungen nach einer Verpflichtung zu gesunderhaltendem Verhalten durch Sport und gesunde Ernährung eine Gesundheitspolizei aufmarschieren, wie sie Juli Zeh in ihrem Roman "Corpus delicti" [1] visionär beschrieben hat.

Eine Fremdgefährdung, die Gefährdung unbeteiligter Dritter, scheint auf den ersten Blick besonders inakzeptabel, wird aber in weiten Bereichen unserer Gesellschaft in Kauf genommen. Man denke nur an den Straßenverkehr oder an Umweltschäden. Diese treffen Kinder besonders hart, weil sie unsere Lebensumstände nicht zu verantworten haben und in jedem Fall Opfer sind. Mit einem unüberschaubaren Netzwerk von Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften versucht der Staat, diesen immanenten Risiken Herr zu werden, ohne in letzter Konsequenz dafür in Rechenschaft genommen zu werden. Stirbt irgendwo in Deutschland ein Kind an einer möglicherweise impfpräventablen Erkrankung, geht ein Aufschrei durch die ganze Republik, während die Zahl der im Straßenverkehr verletzten oder getöteten Kinder weitgehend unkommentiert bleibt. Im Extremfall werden Kinder mit dem Auto transportiert, um sie vor eben diesem automobilen Verkehr zu schützen.

So ist die Risikowahrnehmung und -beurteilung sehr selektiv, um nicht zu sagen, skotomisiert, indem Risikobereiche ausgeklammert werden, die gesellschaftsnotwendig zu sein scheinen. Auch dies ist kulturell bedingt: Während es einem US-Amerikaner selbstverständlich erscheint, eine geladene Schusswaffe im Haus haben zu dürfen, wird ein Weihnachtsbaum mit echten Kerzen für ihn ein untragbares Risiko darstellen.

Die Forderung "safety first" mag grundsätzlich richtig sein, jedoch erkämpfen wir diese Sicherheit mit Verlust an Freiheit. Und: Je mehr Sicherheit wir im Alltag liefern, desto größer wird der Wunsch nach Nervenkitzel.

Dr. Stephan H. Nolte, Marburg


Literatur
1. Juli Zeh (2009) Corpus delicti. Frankfurt, Schöffling


Autor:
Dr. Stephan H. Nolte, Marburg


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2016; 87 (5) Seite 278