Kindergarten, Schule, Gesundheitssystem: In Schweden ist vieles überraschend anders geregelt - gerade für Kinder. Ein Interview mit einer in Schweden lebenden, aus Deutschland stammenden HNO-Ärztin, Mutter von 2 Kindern.

Dr. med. Julia Uffenorde ist 40 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie in Uppsala, Schweden. Sie arbeitet als HNO-Ärztin in einer Klinik in Gävle, ihre beiden Kinder sind 7 und 5 Jahre alt. Die Fragen stellte ihr Vater, Herr Dr. Jochim Uffenorde, HNO-Arzt in Göttingen.

Jochim Uffenorde: Julia, nach Deinem Staatsexamen in Göttingen bist Du nach Schweden gegangen. Wie viele Jahre lebst Du hier, und was war der Grund für Deinen Umzug?

Julia: Schon während meiner Schulzeit war ich mehrfach in Norwegen bei Freunden zu Besuch. Während meines Studiums in Göttingen hatte ich Kurse zum Erlernen der norwegischen Sprache belegt und nach dem Staatsexamen auch 4 Monate meines PJ in Norwegen verbracht. Als mein damaliger Freund ein Erasmus-Jahr in Schweden absolvierte, ging ich 2010 nach Lund in Südschweden und begann dort als Ärztin zu arbeiten. In Linköping habe ich die Facharztausbildung zur HNO-Ärztin gemacht, und seit 2021 wohne ich mit meiner Familie in Uppsala.

Deine Kinder sind beide in Schweden geboren. Haben Amanda und Anton die schwedische oder die deutsche Staatsbürgerschaft?

Julia: Amanda und Anton haben qua Geburt die schwedische Staatsangehörigkeit. Für beide Kinder konnte ich als Deutsche auch die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Alle drei haben wir also sowohl einen deutschen als auch einen schwedischen Pass.

Als Ausländer erhält man die schwedische Staatsangehörigkeit, wenn man 5 Jahre ohne Unterbrechung in Schweden gelebt hat.

Du arbeitest als HNO-Ärztin, Anton besucht den Kindergarten, Amanda geht in die Schule. Sprecht ihr zu Hause schwedisch oder deutsch?

Julia: Wir sprechen zu Hause mit den Kindern deutsch und spanisch, mein Mann kommt aus Chile. Untereinander sprechen die Kinder deutsch, aber in der Schule und im Kindergarten natürlich schwedisch.

Während der Corona-Krise blieben in Deutschland 2020/2021 Kindergärten und Schulen teils monatelang geschlossen. Wie war die Situation für Deine Kinder in dieser Zeit?

Julia: Die schwedische Corona-Politik war ja besonders zu Beginn sehr umstritten. Aber aus heutiger Sicht war es für uns ein Segen, dass die Kindergärten in Schweden zu keinem Zeitpunkt geschlossen waren. So konnten sowohl mein Mann als auch ich weiterhin in unserem Beruf arbeiten. Die einzige Einschränkung bestand für uns darin, dass wir unsere Kinder draußen abgeben mussten und den Kindergarten als Eltern nicht betreten durften.

Wir hatten hier in Schweden auch keine Maskenpflicht, es gab nur eine Empfehlung für die Erwachsenen.

Anton besucht den Kindergarten. Wie bewertest Du die Betreuung dort?

Julia: Anton geht sehr gerne in seinen Kindergarten und liebt seine Betreuerinnen.

In Schweden gibt es keine Kita wie in Deutschland, nur einen Kindergarten. Alle Kinder, die das erste Lebensjahr vollendet haben, können dort aufgenommen werden. In Antons Kindergarten in Uppsala sind etwa 25 Kinder, eine Betreuerin ist im Durchschnitt für 4 Kinder verantwortlich. Die mögliche Betreuungszeit ist von 7 bis 19 Uhr. In Schweden ist es üblich, dass beide Elternteile bis 17 Uhr arbeiten.

Wir bezahlen eine monatliche Gebühr von umgerechnet 120 Euro, darin enthalten sind auch alle Mahlzeiten. Anton geht ohne Lunch-Box in den Kindergarten. Eine Staffelung des Kindergarten-Beitrags nach dem Einkommen der Eltern gibt es bei uns nicht. Die Kinder treffen sich morgens üblicherweise draußen und gehen um 11 Uhr zum ersten Mal ins Haus. Die meisten Kindergarten-Aktivitäten finden aber im Freien statt.

Es gibt eine Kindergarten-App, in der ich genau sehen kann, wann Anton heute angekommen ist oder abgeholt wurde, welche Aktivitäten in der Woche geplant sind und welches Mittagessen es gibt. Im wöchentlichen Essensplan wird aufgelistet, wie viel Kalorien und welchen ökologischen Anteil die Mahlzeit hat oder wieviel CO2 für dieses Gericht verbraucht wurde. Ich kann für Anton auch eine vegetarische Alternative bestellen. In der App sind auch Fotos aus dem Kindergarten zu sehen, allerdings werden niemals die Gesichter der Kinder abgebildet.

In welchem Alter kam Amanda in die Schule? Im Vergleich zum deutschen Schulsystem: Was ist in Schweden anders?

Julia: In dem Jahr, in dem das Kind 6 Jahre alt wird, geht es nach dem Sommer zunächst für ein Jahr in die Vorschule.

In der Vorschule hat Amanda Zahlen und das ABC gelernt und konnte am Ende einfache Worte schreiben. Dies hat aus meiner Sicht den Vorteil, dass alle Kinder dann in der ersten Klasse auf dem gleichen Wissensstand sind, unabhängig von der Erziehung im Elternhaus.

In der Vorschule und jetzt auch in der ersten Klasse beginnt der Unterricht für Amanda um 8:15 Uhr und endet mittags. Eine Besonderheit in Schweden ist die kostenlose warme Mittagsmahlzeit für alle Schulkinder. Soweit ich weiß, gibt es das in Europa nur noch in Finnland und Estland.

Anschließend werden alle Kinder in der Schule betreut und können spielen oder basteln. Amanda wird meist gegen 16 Uhr von uns abgeholt.

So wie in Deutschland wird auch in Schweden kein Schulgeld bezahlt. In Amandas Klasse sind 27 Kinder. Sehr viele von ihnen haben ausländische Wurzeln. Alle Kinder haben das Recht auf eine halbe Unterrichtsstunde pro Woche in ihrer Muttersprache.

Alle Schulkinder bekommen sämtliches Unterrichtsmaterial kostenlos gestellt, also alle Bücher, Hefte, Schreib- oder Buntstifte etc. Amanda hat ein Fach in der Schule, in dem diese Dinge nach dem Unterricht abgelegt werden. Sie besitzt also auch keinen Ranzen, den sie hin- und hertragen muss. Lediglich ihre Sportsachen nimmt sie bei Bedarf mit in die Schule. Einmal pro Woche hat sie Hausaufgaben und bringt dann ein Heft oder Arbeitsblatt mit nach Hause.

Klassenfahrten wie in Deutschland üblich, gibt es hier nicht. Dafür werden eintägige Busfahrten oder Ausflüge, z. B. nach Stockholm unternommen. Die Kosten hierfür werden vollständig von der Schule getragen.

Auch für die höheren Klassen gilt in der gesamten Schule ein absolutes Handyverbot.

Bis in die höheren Klassen gibt es keine Noten, sondern nur allgemeine Bewertungen. Einmal pro Jahr findet in der Schule ein Erziehungsgespräch mit der Klassenlehrerin oder dem Klassenlehrer statt, übrigens immer auch in Anwesenheit des Kindes.

Seit Amanda 2021 in ihre Schule geht, ist es niemals zu einem krankheitsbedingten Unterrichtsausfall oder zur Schulschließung gekommen.

Das schwedische Sozialsystem wird in Deutschland häufig als besonders nachahmenswert dargestellt. Wie steht es mit dem Gesundheitssystem? Wie sind Deine Erfahrungen hinsichtlich z. B. Vorsorgeuntersuchungen von Kindern bzw. notwendigen Behandlungen?

Julia: Die Vorsorgeuntersuchungen finden hier in Allgemeinarztpraxen statt und werden sämtlich durch spezielle Kinderkrankenschwestern durchgeführt. Dazu muss man wissen, dass die Krankenschwestern in Schweden ein Studium absolvieren, im Allgemeinen also sehr gut ausgebildet sind und ebenso gut wie die Ärztinnen und Ärzte bezahlt werden. Bei der sehr flachen Hierarchie hier stehen sie praktisch auf einer Stufe mit Ärztinnen und Ärzten. Kinderarztpraxen gibt es in Schweden nicht, bei entsprechenden Erkrankungen muss das Kind in einer Klinik, hier in Uppsala ist das die Uni-Kinderklinik, vorgestellt werden.

Abgesehen von akuten Notfällen wird hierfür aber eine Überweisung von der Allgemeinarztpraxis benötigt, die dann in der Kinderklinik zunächst geprüft und ggfs. auch abgelehnt werden kann. Dies kann natürlich dauern.

Einen "Kollegen-Bonus", wie in Deutschland üblich, gibt es hier nicht. Auch ich als HNO-Kollegin kann meine Kinder nur mit einer solchen Überweisung in der Kinderklinik vorstellen.

Bei aller Kritik kann ich aber zusammenfassend feststellen, dass hier in Schweden das Kindeswohl oberste Priorität hat.


Korrespondenzadresse:
© privat
Dr. med. Jochim Uffenorde
HNO-Praxis
Waldweg 1, 37073 Göttingen
Tel.: 05 51/48 44 88, Fax: 05 51/4 80 12
Interessenkonflikt:
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag besteht.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2024; 95 (3) Seite 216-218