Stellungnahme eines vom bayerischen Landtag einberufenen Expertengremiums unter Beratung des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales und des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege.

Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit komplexen chronischen Erkrankungen, Entwicklungsstörungen und neuen Morbiditäten (und ihren damit typischen Konstellationen hinsichtlich Entwicklungsrisiken und Teilhabestörungen) ist ergänzend zu der primären pädiatrisch-hausärztlichen und pädiatrisch-fachärztlichen Versorgung (und in enger Zusammenarbeit mit den interdisziplinären Frühförderstellen und anderen Hilfesystemen) die Aufgabe sektorenübergreifender pädiatrischer Versorgungsstrukturen, in vielen Fällen ärztlich geleiteter Sozialpädiatrischer Zentren.

Die behandelnden Kinder- und Jugendärzte und -ärztinnen der Praxispädiatrie nehmen hierbei als Vertragsärzte regelhaft eine koordinierende Rolle (Lotsenfunktion) bei der Inanspruchnahme eines gestuften Behandlungsangebotes1 ein. Dies ist vom Gesetzgeber auch insofern vorgegeben, als dass er die Behandlung in Sozialpädiatrischen Zentren für diejenigen Kinder ermöglicht, die wegen der Art, Schwere oder Dauer ihrer Krankheit oder einer drohenden Krankheit nicht von geeigneten Ärzten oder in geeigneten Frühförderstellen behandelt werden können (vergl. SBGV, §119, Abs. 2).

Der steigende Bedarf in diesem Bereich der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen wird auf bundespolitischer Ebene im Koalitionsvertrag 2021 – 2025 dergestalt aufgenommen, dass expressis verbis das Ziel des ,,[ ... ] Ausbau[s) [ ... ]der Sozialpädiatrischen Zentren" formuliert ist.

Dem ebenfalls im Koalitionsvertrag formulierten Anliegen, dass die ambulante Bedarfs- und stationäre Krankenhausplanung gemeinsam mit den Ländern zu einer sektorenübergreifenden Versorgungsplanung weiterentwickelt werden soll, wird insofern Rechnung getragen, dass die regionale Bedarfsbestimmung der sozialpädiatrischen Versorgung in Sozialpädiatrischen Zentren sowohl bundespolitische Vorgaben und Zielsetzungen als auch qualitative und "Vorort-Spezifika" berücksichtigt. Die Zielsetzung besteht in einer (i) zeitnahen Versorgung, (ii) räumlichen Erreichbarkeit und in einer (iii) dem Bedarf angepassten quantitativen und qualitativen Versorgung.

Wartezeiten

Die Wartezeiten auf einen Termin in einem Sozialpädiatrischen Zentrum richten sich grundsätzlich nach der bio-psycho-sozialen Dringlichkeit. übereinstimmend wird festgestellt, dass aufgrund der in den meisten Fällen vorliegenden Entwicklungsproblematik eine Wartezeit von drei Monaten nicht überschritten werden sollte. In Einzelfällen (z. B. Notfälle oder auch Säuglingsalter) ist eine deutlich schnellere Versorgung indiziert.

Entfernung/Fahrtweg zu einem SPZ

Die Anfahrt zu einem SPZ von einer Stunde wird grundsätzlich als akzeptabel angesehen. Dies kann sich nicht nur alleine auf die Erreichbarkeit mit einem PKW beziehen, sondern muss andere Transportmittel, insbesondere den öffentlichen Nahverkehr, mit einbeziehen. In diesem Sinne sollte angestrebt werden, dass für Familien Sozialpädiatrische Zentren in einer angemessenen Zeit auch dann erreichbar sind, wenn ein eigenes Kraftfahrzeug nicht zur Verfügung steht. In Einzelfällen kann die Erreichbarkeit dann auch mehr als eine Stunde in Anspruch nehmen.

Bedarfsangepasste quantitative und qualitative Versorgung

Die im Zusammenhang mit der Ermächtigung von SPZ als Bezugsgröße eingesetzte Einwohnerzahl bezieht sich in der Regel auf das Urteil des BSG vom 17. 02. 2016,
B 6 KA 6/15 R, insbesondere Absatz 31 und 32. Hier wird unter anderem ausgeführt:

31

SPZ gab es in geringer Zahl bereits vor der Einführung einer entsprechenden gesetzlichen Regelung [...]. Als Planungsgröße war zu dieser Zeit die Zahl von einem SPZ auf eine Million Einwohner formuliert worden [1, 2]. Diese Quote wird heute in der Regel nicht mehr als ausreichend angesehen. Die tatsächlich erreichte Quote wurde im Jahr 2007 mit etwa einem SPZ pro 450.000 Einwohner angegeben, wobei die regionalen Unterschiede erheblich waren. Unter den ermächtigten SPZ fanden sich offenbar auch "Kleinstzentren", die die in Fachkreisen formulierten Anforderungen an die personelle Ausstattung (vgl dazu nachfolgend) nicht erfüllten. Gleichwohl wird die Quote von einem SPZ auf 450.000 Einwohner als geeigneter Orientierungspunkt für die künftige sozialpädiatrische Planung angesehen, wobei ein SPZ mit zwei Teams typischerweise für die Versorgung einer solchen Einwohnerzahl ausreichend sein soll (vgl Hollmann/Bode, aaO S 278). [...] In seiner Entscheidung vom [...] ist der Senat davon ausgegangen, dass ein SPZ mit der Versorgung von ca. 400.000 Einwohnern eines Kreises ausgelastet wäre. Dabei kann es sich allerdings nur um einen groben Anhaltspunkt handeln. Dies folgt bereits aus dem Umstand, dass die Orientierung an Einwohnerzahlen weder berücksichtigt, wie hoch der Anteil der Kinder an der Einwohnerzahl ist, noch zu welchem Anteil diese auf die speziellen Leistungen von SPZ angewiesen sind.

32

Die Besetzung eines SPZ mit zwei Teams mit jeweils fünf Vollzeitstellen gehört nach den in einschlägigen Fachkreisen anerkannten Qualitätsstandards zur Mindestausstattung [3, 4], weil nur so die Voraussetzungen für Vertretungsmöglichkeiten und vor allem für die aufgrund der komplexen und speziellen Fragestellungen erforderliche fachliche Differenzierung geschaffen werden können [1]. Daraus folgt, dass auch eine darüber hinausgehende Personalausstattung mit mehr als zwei Teams unter Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten nicht zu beanstanden ist, mit der Folge, dass auch mehr als 450.000 Einwohner durch ein SPZ versorgt werden können. Bei einem Einzugsgebiet von weniger als 400.000 bis 500.000 Einwohnern ist dagegen – wenn gleichwohl zwei Teams mit insgesamt zehn Vollzeitstellen bereitgestellt werden – die Wirtschaftlichkeit oder – bei einer geringeren Personalausstattung – die Qualität des SPZ in Frage gestellt (vgl BSG SozR 4-2500 § 119 Nr 1 RdNr 11). Obergrenzen bezogen auf den Einzugsbereich ergeben sich dagegen in erster Linie im Hinblick auf die Erreichbarkeit des SPZ für die Versicherten, auch wenn bei diesen Zentren – anders als etwa bei den Frühför Frühförderstellen – die Anforderungen an die Wohnortnähe nicht im Vordergrund stehen können.

Um inhaltliche und strukturelle Fehlinterpretationen zu vermeiden, ist zu berücksichtigen, dass sich das BSG-Urteil vom 17. 02. 2016 bezüglich der Orientierung an Einwohnerzahlen im Verhältnis zu SPZ und Behandlungsteams an einer Veröffentlichung von Hollmann und Bode aus dem Jahre 2007 [1] orientiert und nicht (wie vielfach falsch zitiert) an Angaben aus dem Altöttinger Papier (als strukturformulierende und immer wieder aktualisierte Grundlage der Sozialpädiatrischen Zentren). Dort finden sich keine Angaben zu Bevölkerungszahlen, auch nicht in der Version von 2014. Die Anzahl von zwei Teams für ein SPZ ist hier als institutionelle Untergrenze im Sinne einer Strukturvoraussetzung formuliert.

Darüber hinaus relativiert das BSG die Orientierung an der Einwohnerzahl in dreierlei Hinsicht,

  • erstens, indem es darauf verweist, dass es sich nur um "grobe Anhaltspunkte" handeln kann,
  • zweitens, indem es eine Dynamik der Bezugsgrößenentwicklung aufzeigt (1988: 1 Mio., 2007: 450.000) und
  • drittens, indem es das Spektrum "spezieller Leistungen" betont (s. hierzu auch 5).

Eine einrichtungsbezogene Beurteilung von Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit nach SGB V §119 Abs 1 eines SPZ ist gemäß des aufgeführten BSG-Urteils also nicht an einer isolierten Betrachtung der Einwohnerzahl in einem Einzugsgebiet festzumachen.

Bezüglich einer quantitativ und qualitativ an die Versorgungsbedarfe angepassten SPZErmächtigung hält das Gremium folgende Punkte einvernehmlich fest:

  • Eine Bedarfserhebung auf nachvollziehbarer Grundlage für Sozialpädiatrische Zentren sollte sich nicht isoliert an der absoluten Bevölkerungszahl orientieren, sondern [1] an der Anzahl der Kinder und Jugendlichen in einem Einzugsgebiet und [2] an dem Anteil der Kinder und Jugendlichen, die auf die speziellen Leistungen von SPZ angewiesen sind.
  • Die SPZ-Versorgung muss auf die regionalen Strukturen abgestimmt sein und bestehende stationäre und ambulante Angebote sinnvoll ergänzen und der zunehmenden (auch politisch gewollten) Ambulantisierung der Pädiatrie Rechnung tragen.
  • Vor dem Hintergrund der verbesserten Therapieoptionen von Kindern mit chronischen Erkrankungen nehmen die SPZ eine zunehmend zentrale Rolle bei der longitudinalen Versorgung von komplex chronisch kranken Kindern mit Entwicklungsrisiken und Teilhabestörungen ein.
  • Ein zunehmender Bedarf resultiert auch aus dem Anspruch, ,,neuen Morbiditäten" durch Frühinterventionen zu begegnen, wie er in der KiGGS-Studie formuliert wird [6].
  • Aktuelle, nachhaltig wirksame gesellschaftliche Entwicklungen auf die Versorgung von Kindern und Jugendlichen, wie z. B. Änderungen von gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen (Pflegekräftemangel, Bettenmangel), Folgen von Pandemien und Migrationssituationen zeigen ihre Auswirkungen an der Schnittstelle von Medizin zu anderen Hilfesystemen (wie z. B. Frühförderung und Jugendhilfe) und müssen bezüglich ihrer aktuellen und langfristigen Auswirkungen auf die Inanspruchnahme der SPZ Berücksichtigung finden.
  • Die Komplexität und Diversität der Krankheits- und Störungsbilder machen es schwer, eine konkrete zahlenmäßige Bedarfseinschätzung zu benennen. Die Unterzeichnenden gehen von einem steigenden Bedarf aus.

Das durch den bayerischen Landtag einberufene Expertengremium in dem Leistungserbringer und Kostenträger vertreten sind und das durch das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege und das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales sowie die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns beraten wurde – kommt zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass die aufgeführten, konsensuell diskutierten Anhaltspunkte geeignet sind, Zulassungsausschüsse bei der Prüfung einer notwendigen und ausreichenden SPZ-Versorgung zu unterstützen und lokal begründete Flexibilität zu realisieren.


Literatur:
1. Hollmann H, Bode H: Wie viele SPZ braucht das Land? Kinderärztliche Praxis 2007; 78 (5): 276 – 279.
2. Schlack HG: Sozialpädiatrische Zentren: Entwicklungen, aktuelle Probleme, Aufgaben und Perspektiven. Kinderärztliche Praxis 1998 5, 278 – 287.
3. Gemeinsame Empfehlungen zur Ermächtigung von sozialpädiatrischen Zentren im Rahmen der ambulanten sozialpädiatrischen Behandlung von Kindern nach § 119" vom 16.10.1989.
4. Altöttinger Papier, erstmals im Jahr 2002 verabschiedet insoweit unverändert auch in der Fassung aus dem Jahr 2014.
5. Heinen F: Zusammenarbeit von Pädiatrie und Sozialpädiatrie: Schaffung einer biopsychosozialen Medizin für komplex chronisch kranke Kinder und Jugendliche. Bundesgesundheitsblatt 2020 (63).
6. Krause L, Vogelgesang F, Thamm R, Schienkiewitz A, Damerow S, Schlack R, Junker S, Mauz E: Individual trajectories of asthma, obesity and ADHD during the transition from childhood and adolescence to young adulthood. Journal of Health Monitoring 2021 6 (S5) DOI 10.25646/7913.

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2024; 95 (1) Seite 56-58