Über die Frage nach der optimalen Betreuung von Kindern in den ersten Lebensjahren wird viel und kontrovers diskutiert. So gibt es zur U3-Betreuung in Kitas unterschiedliche Ansichten. Im Beitrag von Ulrike Horacek geht es um die Pro-Position. Den Beitrag zur Contra-Position finden Sie hier hier.

Der nachfolgende Beitrag war ursprünglich nicht als Schrifttext, sondern für das Format einer direkten mündlichen Auseinandersetzung im Sinne einer Pro- & Contra-Diskussion konzipiert. Über die Homepage der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (www.dakj.de) ist ein Positionspapier abzurufen, das in komprimierter Form den Abstimmungsprozess der DAKJ-Kommission „Frühe Betreuung und Kindergesundheit“ wiedergibt, in der die pädiatrischen Fachverbände repräsentiert sind und deren Sprecherin die Verfasserin ist.

Bitte erwarten Sie von mir keine Erkenntnisse, die es gar nicht gibt. Zu der Aussage "Kleinkinder in den ersten 3 Lebensjahren sind in Kitas gut aufgehoben" gibt es keine belastbaren Aussagen für hier, heute, unsere Rahmenbedingungen und unsere Kinder. Bei fehlender Evidenz werden Sie sich umso mehr darauf einlassen müssen, welche Kriterien, Indikatoren oder nur Indizien jeweils herangezogen werden, um der Wahrheit möglichst nahezukommen. Und innerhalb des vorgegebenen Rahmens wird es nicht vermeidbar sein, die Komplexität dieses facettenreichen Themas auf ein hoffentlich vertretbares Maß reduziert zu bekommen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Ausgangsfrage so: Ist das Glas nun halb voll oder halb leer? Was wissen wir eigentlich, was können wir als Indizien oder Indikatoren heranziehen? Dies wird der erste Teil meines Beitrags sein. Der zweite wird sich damit beschäftigen, was die Alternative ist, wenn Kleinkinder nicht in Krippen gehen. Und der dritte soll unserer Rolle als Sozialpädiater gewidmet sein.

Was wissen wir, was ist der Kontext?

  • Seit dem 01. 08. 2013 besteht in Deutschland ein gesetzlich verbrieftes Recht auf einen Krippenplatz für Kinder ab dem vollendeten 1. Lebensjahr. Es folgte ein quantitativer Ausbau der U3-Plätze, ausgehend von sehr heterogenen Ausgangsniveaus in den Bundesländern.
  • Laut Länderreport der Bertelsmann-Stiftung zur frühkindlichen Bildung 2017 wollten 2015 43 % der Eltern einen U3-Platz für ihr Kind.
  • Zur Inanspruchnahme ist zu sagen, dass in den neuen Bundesländern 52 % der unter 3-Jährigen in die Betreuung gehen, in den alten 28 %. 2008 waren es bundesweit 17,3 %.
  • Bemerkenswerter Weise gibt es für Kinder unter einem Jahr kaum eine Steigerung: Die Nutzung liegt unter 3 % und wird häufig in der Struktur Kindertagespflege mit familienähnlichen Kleingruppenstrukturen wahrgenommen. Zur "Dosis", d. h. zum Betreuungsumfang in Stunden und zu ihrer Verteilung gibt es keine plastischen Daten aus der Jugendhilfestatistik.
  • Der Anteil der Mütter, die im 2. Lebensjahr des Kindes wieder arbeiten, stieg zwischen 2006 und 2014 von 35 auf 43 %, zugleich sank der Anteil derer, die im 1. Lebensjahr des Kindes wieder in die Ausbildung oder den Job gingen. Laut OECD sind in Deutschland etwa 68 % der Mütter erwerbstätig (Griechenland 50 % und Dänemark 80%), dabei ist fast die Hälfte in Teilzeit beschäftigt.
  • Vor fünfeinhalb Jahren (!) wurden die Ergebnisse der nationalen NUBBEK-Studie veröffentlicht. Es zeigte sich, dass die Krippenqualität – mit allen Relativierungen des Studiendesigns und der Kriterien – zu gut 80 % nur im mittelmäßigen Bereich liegt.
  • Was wir ganz sicher wissen ist, dass "privilegierte Kinder" von guter Betreuungsqualität besonders profitieren. Und andererseits, dass "unterprivilegierte" Kinder besonders vulnerabel auf schlechte Qualität reagieren.
  • Eindrucksvolle Effekte völlig unabhängig von soziodemografischen Faktoren gibt es aber auch: Eine retrospektive Analyse der Ergebnisse der Einschulungsuntersuchungen in Bayern für das Schuljahr 2013/14 zeigt, dass alle Kinder mit früh beginnender und langer Betreuung in Bezug auf ihre sprachlichen und visuomotorischen Entwicklungsparameter signifikant besser abschneiden. Ähnliche Ergebnisse gibt es u. a. aus NRW und Mecklenburg-Vorpommern.
  • Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Empfehlungen der Fachgesellschaften umgesetzt werden und wie sich dies im Monitoring abbildet. Seit 2009 (!) existiert ein DGSPJ-Papier zu empfohlenen Qualitätskriterien in der U3-Betreuung, das zu ähnlichen fachlichen Empfehlungen kommt wie die Bertelsmann-Stiftung und die Deutsche Liga für das Kind. Zum Polarisieren nehme ich eine wichtige Kennzahl aus dem jährlich erscheinenden Bertelsmann Datenreport zur frühkindlichen Bildung heraus: In Deutschland betreut ein Erzieher durchschnittlich 4,3 Kinder unter 3 Jahren (innerdeutscher Range zwischen 3,0 bis 6,5!). Die Empfehlung lautet, mindestens eine pädagogische Kraft für 3 Kinder bereitzustellen. Immerhin schaffen es 9 Bundesländer, im Mittel eine Fachkraft pro 4 U3-Kinder vorzuhalten. Im zeitlichen Verlauf zeigt sich, dass die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit deutlich kleiner wird und sich begrüßens- und unterstützenswerte Entwicklungen abzeichnen.

Was ist die Alternative zu einer frühen institutionellen Betreuung, wo verbleiben die Kinder sonst, was passiert mit ihnen?

Und zwar hier – heute – unter unseren Rahmenbedingungen. Wir müssen uns in diesem Kontext fragen, in welchen Lebenswirklichkeiten junge Familien heute Betreuungsentscheidungen treffen müssen. Sicherlich sind diese sehr unterschiedlich. Und gibt es überhaupt "das" Kind? Und wenn ja, wie viele? Wir müssen davon ausgehen, dass hier und heute die Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, höchst heterogen sind. Individualisierung, Pluralisierung, Diversifizierung fordern ihren Tribut. Und jedes fünfte Kind ist Kinderarmut und/oder Bildungsferne seiner Eltern ausgesetzt, andrerseits kennt jeder von uns eine erkleckliche Zahl von Kindern, die am anderen Pol mit Überfluss und Überbehütung – manchmal aber auch Wohlstandsverwahrlosung – konfrontiert sind.

Nach über 30 Jahren im kommunalen ÖGD wage ich zu behaupten, dass manchen Kindern mehr Beiläufigkeit und Herausforderung in außerfamiliären Kontexten guttäte. Ich wage auch zu behaupten – und kann belegen –, dass viele Kinder auch und gerade als Kleinkinder dringend Anregungen und Impulse für ihre Entwicklung brauchen, die sie in ihrem familiären Umfeld nicht bekommen.

Plakatives Beispiel ist der von der BVKJ-Studie belegte erschreckend hohe frühkindliche Fernsehkonsum. Und im Mittel hat jedes Kind knapp ein halbes Geschwisterkind. Ich polarisiere wiederum: Dem einen Kind fehlen mehr die Geschwister, dem anderen mehr die entwicklungsförderlichen Settings. Wir haben die Kinder, bei denen die Kontakte zu Gleichaltrigen stark elterlich gebahnt sind, die hervorragende Projektionsflächen für generationenübergreifende Wünsche sind und beste Bildungschancen verwirklichen können. "Daneben" gibt es aber auch eine Vielzahl von Kindern in Armut, in bildungsfernen Familien, die selbst von leicht "konsumierbaren" Regelversorgungsangeboten im SGB-V-Bereich, geschweige denn von Bildungsangeboten schwer erreicht werden. Und dazwischen gibt es eine große Zahl von Familien unterschiedlichster, individualisierter Lebenskonzepte und Rollenmuster.

Andererseits: Wir unterstellen doch nicht im Ernst, dass Eltern heutzutage ihre Kinder weniger lieben; sie müssen es nur unter anderen Rahmenbedingungen realisieren, die sie nicht alle beeinflussen können! Und sehr viele von ihnen stellen täglich unter Beweis, dass sie auch unter diesen Bedingungen qualifizierte und glückliche Zeit mit ihren Kindern verbringen.

Und nun wird es spannend: Wer nutzt die frühe Betreuung? Nun ja, Mütter in Armut, die Lebensunterhalt (mit)finanzieren, sind schon dabei. Jedoch in weitaus höherem Maß sind es Mütter mit höherer Bildung und Ausbildung wie unsere Töchter und Schwiegertöchter, die Beruf und Kind/Kinder miteinander vereinbaren möchten. Und die sich dabei immer häufiger auf die sich erfreulich fast endemisch ausbreitenden "neuen Väter" verlassen können!

Was sollte passieren, wenn man davon ausgeht, dass qualifizierte U3-Betreuung wichtig ist? Und welche Konsequenzen ergeben sich für uns als Pädiater?

Mein Plädoyer lautet ganz entschieden: Von den formulierten und proklamierten Forderungen dürfen wir nicht ablassen und an einigen Stellen sogar ergänzen:

  • keine Kompromisse eingehen bei kindgerechtem Fachkraftschlüssel und Gruppengröße, keine großen altersgemischten Gruppen mit Krippenkindern, möglichst hohe Kontinuität der Betreuer und Verbesserung der Ausbildung des pädagogischen Personals, das partnerschaftlich und synergistisch mit Eltern umgehen kann und weiß, was stabile Sekundärbindungen sind;
  • die Zusammenarbeit mit den Frühen Hilfen befördern, um Unterstützungssysteme für belastete Familien leichter und häufiger zugänglich zu machen (kein Kind wird zurückgelassen! Kinderschutz!);
  • bei der Aufwertung von Krippen als Orte früher Bildung mitziehen, die zu verstehen ist als konkretes Bereitstellen von "basalen" Entwicklungsanregungen und -impulsen. Als klassische Schlüsselqualifikation sei hier die Sprachentwicklung genannt;
  • im Sinne des Präventionsgesetzes das Setting Krippe stärker als Ort für frühe Gesundheitsförderung nutzen (Bewegung, Ernährung, Resilienz), für das Konditionieren von Gesundheitsverhalten (einfaches Beispiel: das Zähneputzen);
  • neue Aspekte beleuchten und systematisch wissenschaftlich angehen, z. B. die Bedeutung der Peers in Krippen und Kitas, denn auch Peer-Beziehungen können kommunikative und soziale Kompetenzen und die Selbstwahrnehmung als eigenständiges Wesen befördern (es empfiehlt sich dazu die Lektüre von Heft 2/2017 "Frühe Kindheit" der Deutschen Liga für das Kind);
  • Bewährtes wie Familienzentren stärken und weiterentwickeln, da sie sich fortwährend als Kristallisationspunkte für Begegnung, Austausch und "soziale Prävention" mit Stadtteil- und Netzwerkbezug bewähren und sozialkompensatorische Funktionen übernehmen können, ohne zu stigmatisieren oder zu diskriminieren;
  • qualifizierte Betreuungsformen wie die institutionelle Kindertagespflege kennen und unterstützen. Der Bundesverband Kindertagespflege setzt beispielgebende Qualifizierungsmaßnahmen mit Bildungsträgern um, und die Konzepte sind durchaus als Blaupause für eine frühe Betreuungsform in familienähnlicher Struktur zu sehen, die an Jugendhilfe angebunden ist und sich vor ihr zu verantworten hat.

Nicht zuletzt sollten wir uns als Sozialpädiater nicht lamentierend auf den Beobachtungsposten, schon gar nicht auf die Klagemauer zurückziehen, sondern:

  • weiterhin forciert die sozialpädiatrische Expertise in die Q-Debatte einbringen (dieser Prozess ist im Gange). Im Sommer 2017 hat die Jugendministerkonferenz Eckpunkten für ein Q-Entwicklungsgesetz in der Kitabetreuung zugestimmt. Grundlage sind Verabredungen, die seit 2014 in einem Prozess von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden mit Federführung beim BMFSFJ erfolgen.
  • Verbündete suchen, Allianzen für etwas, nicht gegen etwas eingehen (Partner können z. B. sein die Deutsche Liga für das Kind, das Deutsches Kinderbulletin, Elternverbände, z. B. die Bundeselternvertretung der Kinder in Kitas (BEVKi);
  • in Bezug auf gesundheitliche Versorgung zumindest für große Einrichtungen darauf hinwirken, dass Gesundheits- und Kinderkrankenpflege vor Ort ist (z. B. Familienzentren; z. B. der Tradition in den neuen Bundesländern folgend) und die Möglichkeiten des ÖGD/KJGD vor Ort nutzen (betriebsmedizinische Aufgaben sind z. T. in Kinderbetreuungsgesetzen und ÖGD-Gesetzen verankert);
  • Forschung befördern, die alle sozialpädiatrisch wichtigen Effekte abbildet, und zwar für unsere aktuellen Rahmenbedingungen, und als verbindliches Monitoring angelegt;
  • dazu beitragen, wo immer wir können, dass sich Bedürfnisse von Eltern und Kindern in größtmögliche Kongruenz bringen lassen. Meine feste Überzeugung ist, dass wir unsere Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen, wenn wir Eltern nicht in ihrer (individuellen) Lebenswirklichkeit abholen und – wenn wir überhaupt als Berater in Betreuungsfragen angesprochen werden – uns authentisch und undogmatisch damit auseinandersetzen. Wir sollten uns schlichtweg nicht anmaßen, Eltern vorzuschreiben, was sie zu tun oder zu lassen haben, und auch bei Betreuungsfragen mit elterlichen Wünschen und Vorstellungen sensibel und respektvoll umgehen. Eltern sollten von uns – manchmal prozesshaft – in der Entscheidungsfindung begleitet werden und dadurch Kompetenzen entwickeln, Qualitätskriterien zu erfassen, Prioritäten für die Bedürfnisse des eigenen Kindes in der ganz individuellen Situation zu erkennen und danach die Betreuungsform auszuwählen. Nicht zuletzt sollten wir dabei die Rolle der "neuen Väter" stärker in den Blick nehmen.

Mein Optimismus für die Zukunft wird dadurch genährt, dass vorwiegend bildungsnahe, artikulationsfähige und -willige Eltern frühe Betreuung nutzen und auf Dauer nicht nur mit den Füßen abstimmen, sondern auch klarere Erwartungen formulieren werden und den Qualitätsentwicklungsprozess katalysieren. Und dadurch, dass eine hohe, zunehmende Bereitschaft des BMFSFJ besteht, die pädiatrische Expertise in diesen einzubringen und damit die kindbezogene Krippenqualität weiter zu verbessern.

Das Glas ist mehr als halb voll, füllen wir es gemeinsam weiter. Und lieber mit Wein als mit Wasser.



Korrespondenzadresse
Dr. med. Ulrike Horacek

Leiterin des Gesundheitsamtes Kreis Recklinghausen
Kurt-Schumacher-Allee 1
45657 Recklinghausen
Tel.: 0 23 61/53-41 34

Interessenkonflikt: Die Autorin hat keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2018; 89 (6) Seite 415-417