Medizinische Kindesmisshandlung geht über das bloße Vortäuschen von Symptomen hinaus. Sie beinhaltet auch die Fehlinterpretation und unnötige Behandlungen seitens des medizinischen Personals. "Wir sollten dies häufiger reflektieren oder uns zumindest fragen, was wir auslösen – aus welchen Motiven auch immer", findet Dr. med. Stephan H. Nolte.

Als Erweiterung des zuvor "Münchhausen-by-proxy-Syndrom" genannten Symptomkomplexes beinhaltet "Medizinische Kindesmisshandlung" nicht nur eine Vortäuschung oder Aggravation von Symptomen des Kindes durch die Bezugsperson, sondern auch eine Überreaktion oder voreilige Interpretation der Ärztinnen und Ärzte auf berichtete Symptome. Dies führt nicht zuletzt zu einer überzogenen Beanspruchung der Ressourcen des Gesundheitssystems und schafft künstliche Engpässe.

Der Begriff "Medizinische Kindesmisshandlung" ist dem "Medical Child Abuse (MAC)" entlehnt und ein sinnvoller und notwendiger Oberbegriff, weil er den Schwerpunkt auf die Beeinträchtigung oder gar Schädigung des Kindes unabhängig vom Verursacher setzt. In der Regel denkt man zunächst an die Psychopathologie der Bezugspersonen, die etwa durch eine Angststörung, andere psychiatrische Erkrankungen oder unbewusst missbräuchliches Handeln bedingt sein kann. Besondere Lebenssituationen wie Alleinerziehung, Erschöpfung, Ablehnung des Kindes oder fehlende sinngebende Lebensinhalte können solche Handlungen begünstigen.

Aber auch seitens der Ärztinnen und Ärzte spielen Mechanismen eine Rolle, die mitunter auch pekuniärer Art sein können. Gesprächsbedarf seitens der Patientin oder des Patienten wird vorschnell mit aktionistischen medizinischen Handlungen beantwortet.

Was als "Medizinische Kindesmisshandlung" klassifiziert werden kann, ist nur die Spitze eines Eisbergs, mit dem wir permanent zu tun haben. Täglich werden Wünsche und Vorstellungen an uns herangetragen, die dazu führen, dem Kind "Gewalt" anzutun, und sei es "nur" durch wiederholte Blut- und andere Untersuchungen, die man dann – ermattet von der aufreibenden Diskussion mit den Angehörigen – wider der eigenen Überzeugung vornimmt. Kritischer wird es bei medizinisch ungerechtfertigten oder zumindest fragwürdigen Wünschen nach operativen Eingriffen, wozu in manchen Fällen Adenotomie, Tonsillektomie oder Zirkumzision zählen.

Wir sind in der Kinderheilkunde in aller Regel auf eine Fremdanamnese angewiesen, je jünger das Kind ist, umso mehr. Und zunächst einmal müssen wir glauben, was die Bezugspersonen uns berichten. So laufen wir Gefahr, uns mit in ein psychopathologisches Gebäude zu verstricken. Eine Reflexion im Sinne der Balint-Arbeit könnte hier hilfreich sein.

Wenn "Medizinische Kindesmisshandlung" nur als unnötige und potenziell schädigende medizinische Diagnostik oder Therapie von Minderjährigen, die von engen Bezugspersonen provoziert wird, definiert wird, greift dies also mit Sicherheit zu kurz. "Münchhausen by doctors" im Sinne einer unnötigen Angstmache, überflüssigen Dauermedikationen und Eingriffen seitens der Ärztin oder des Arztes ist eine bisher wenig beachtete Grauzone. Wir sollten dies häufiger reflektieren oder uns zumindest fragen, was wir auslösen – aus welchen Motiven auch immer.

Zur Hilfestellung bei der Diagnose und den sich ergebenden Handlungsmöglichkeiten ist jüngst eine umfassende Arbeit erschienen, die allerdings die Mittäterschaft der Protagonisten des Gesundheitssystems weitgehend außer Acht lässt:

Gina-Melissa Semrau et al. (2024) Medical Child Abuse – Ein Leitfaden zur Diagnostik dieser Sonderform der emotionalen und körperlichen Gewalt. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 73 (1): 85 – 109.

Autor:
© Angelika Zinzow
Dr. med. Stephan H. Nolte
Marburg/Lahn



Zur Person:
Dr. med. Stephan Heinrich Nolte war 30 Jahre in Marburg als ­Kinder- und Jugendarzt niedergelassen, ist Lehrbeauftragter an der Uni­versität Marburg, Fachjournalist und Buchautor. Er hat 5 Kinder und 10 ­Enkelkinder.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2025; 96 (2) Seite 80