Gesundheitserziehung gehört in die Schulausbildung, findet Dr. med. Stephan H. Nolte und erläutert, warum der Fokus dabei mehr auf dem Vertrauen in das Gesundsein als auf der Angst vor Krankheiten liegen sollte.

In der Hilflosigkeit der Menschen in Gesundheitsfragen, die sich in den letzten Jahren durch die enorme Steigerung der Beanspruchung von Gesundheitseinrichtungen, insbesondere der Bereitschaftsdienste, Notaufnahmen und Rettungsdienste zeigt, manifestiert sich ein großes Defizit in der Allgemeinbildung, was die Gesundheit allgemein, insbesondere aber den Umgang mit Symptomen und Zufällen jeder Art betrifft. Das liegt nicht allein an mangelnden Kenntnissen, sondern an dem systematischen Schüren von Gesundheitsängsten. Täglich werden wir in den Medien mit dramatischen Krankheitsberichten, neuen Seuchen, neuen Behandlungen und schrecklichen Einzelschicksalen konfrontiert. Überall wird das angeblich fehlende öffentliche Bewusstsein für bestimmte Krankheiten aufgerüttelt.

Die Corona-Pandemie hat die schon zuvor angewachsenen Gesundheitsängste noch um Dimensionen befördert, indem jeder Mitmensch als potenzielle Infektionsquelle zu meiden sei und jegliche banale Infektzeichen das Schlimmste befürchten lassen und einer eingehenden Diagnostik bedürfen.

Gesundheitserziehung gehört in die Schulausbildung. Das ist ein schon lange viel zu vernachlässigter Bereich. Bereits im 18. Jahrhundert gab es im Rahmen der Aufklärung Vorschläge, die Gesundheitserziehung in die Schulausbildung aufzunehmen. Der "Gesundheitskatechismus" eines Bernhard Christoph Faust erlebte schon um 1800 die für die damalige Zeit unglaubliche Auflage von 150.000 Exemplaren. Allerdings sollte Gesundheitserziehung anders gestaltet werden, positiver, und sollte mehr Vertrauen in das Gesundsein als Angst vor Krankheiten lehren.

Als ich in der 5. oder 6. Klasse war, waren wir die ersten, die Ende der 60er-Jahre Unterricht in Sexualkunde erhielten. Das war damals ein ganz neues Fach und wir waren sehr gespannt auf das, was wir da hören würden. Am Ende war es sehr enttäuschend, denn die Thematik beschränkte sich im Wesentlichen nur auf Negatives, Angstmachendes, wie Schwangerschaftsverhütung und Geschlechtskrankheiten. Über den wirklichen Inhalt, der Begegnung der Geschlechter, den schönen und wichtigen Seiten der Sexualität oder gar von Liebe hörten wir gar nichts.

Auch ein anderes Ereignis aus meiner Jugend ist mir in Erinnerung. Unser Biologielehrerin bekam ihr erstes Kind. Das war Unterrichtsthema. Als es dann per Kaiserschnitt geboren wurde, besprach sie im Unterricht, wie segensreich, schonender und für das Gehirn besser doch eine Kaiserschnittgeburt sei, ohne jegliche Einschränkungen. Das hat mir schon damals sehr zu denken gegeben, weil es einfach zeigt, wie groß der Einfluss der Pädagogen auf die spätere Einstellung der Zöglinge sein kann. So manche werden es verinnerlicht haben, und so entsteht eine Haltung wie in Brasilien, wo die Sectiorate bei 55 % liegt.

Und bei uns entwickelt sich, was das Aufsuchen von Notdiensteinrichtungen angeht, ein Konsens: "Damit muss man doch zum Arzt". Womit?

Gesundheitserziehung in der Schule darf nicht dazu verkommen, lediglich Ängste zu schüren. Sie muss darauf ausgerichtet sein, ein positives Verhältnis zum Körper zu gewinnen und die Eigenverantwortlichkeit für Gesundheit zu wecken. Aus jedem Teufelskreis kann es ein Entrinnen geben, einen salutogenetischen Engelskreis, der uns mehr beschäftigen sollte als die Aneinanderreihung pathogenetischer Ketten.

Autor:
© Angelika Zinzow
Dr. med. Stephan H. Nolte
Marburg/Lahn



Zur Person:
Dr. med. Stephan Heinrich Nolte war 30 Jahre in Marburg als ­Kinder- und Jugendarzt niedergelassen, ist Lehrbeauftragter an der Uni­versität Marburg, Fachjournalist und Buchautor. Er hat 5 Kinder und 10 ­Enkelkinder.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2024; 95 (6) Seite 394