Seit einer Dekade nehmen von Jahr zu Jahr Kindeswohlgefährdungen in Deutschland zu. Im Jahr 2023 haben die vom Statistischen Bundesamt bestätigten Kindeswohlgefährdungen einen neuen Höchststand erreicht. Doch die Zahlen dürften noch weit höher liegen.

Nach der jüngsten Statistik wurden die Jugendämter vergangenes Jahr mit mindestens 63.200 Kindern und Jugendlichen konfrontiert, bei denen eine Gefährdung durch Vernachlässigung, psychische oder körperliche sowie sexuelle Gewalt vorlag. Das sind im Jahr 2023 offiziell etwa 1.400 Fälle mehr als im Jahr davor. Die tatsächliche Zunahme fällt aber aus zwei Gründen noch weit höher aus. Zum einen konnten einige Jugendämter 2023 keine Daten melden. Dies lag an einem Cyberangriff auf einen IT-Dienstleister sowie an personeller Überlastung in einigen Ämtern. Würde man die Anzahl der vorjährigen Meldungen dieser Ämter mit einrechnen, würde sich die Anzahl der Kindeswohlgefährdungen auf etwa 67.300 Fälle aufsummieren. Dies entspräche dann einer Zunahme von 8 Prozent. Hinzu kommt eine hohe Dunkelzifferrate, die nur schwer zu beziffern ist.

Besonders ernüchternd dabei: In nahezu drei von vier Fällen (73 Prozent) ging die Kindeswohlgefährdung von einem leiblichen Elternteil aus. Uns so sind die Fälle verteilt:

- zu 58 Prozent handelt es sich um eine Vernachlässigung,

- in 36 Prozent der Fälle gehen die Behörden von einer psychische Misshandlung aus,

- und in 27 Prozent lagen handfeste Indizien für körperliche Misshandlungen sowie in 6 Prozent Hinweise auf sexuelle Gewalt vor.

- 23 Prozent der betroffenen Kinder waren gleich mehreren Gefährdungen ausgesetzt.

In über der Hälfte aller Fälle stammten die Hinweise entweder von der Polizei oder Justiz (31 Prozent) oder von Verwandten, Nachbarn und Bekannten sowie anonyme Hinweisgebern (22 Prozent). Nur sehr wenige Hinweise kommen bislang hingegen aus der ambulanten medizinischen und psychotherapeutischen Versorgung. Das könnte sich aber nun ändern. Mit dem „Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen“ (KJSG) wurde 2021 beschlossen, dass KVen mit den kommunalen Spitzenverbänden auf Landesebene „Kooperationsvereinbarungen zum Kinder- und Jugendschutz“ schließen (Paragraf 73c SGB V). Damit wird nun genauer als bislang geregelt, wann und wie Ärzte eine vermutete Kindeswohlgefährdung an die Jugendämter weiterleiten können und wie sie im Weiteren in spätere Fallbesprechungen beteiligt werden können. Falls solche Kooperationsvereinbarungen nach 73c SGB V vorliegen, können von den Pädiatern nun auch 2 neue EBM-Ziffern (GOP 01681und GOP 01682) abgerechnet werden.

Angesetzt werden können beide Ziffern jedoch erst, wenn entsprechende Vereinbarungen vorliegen. Allerdings haben bis zum Sommer diesen Jahres erst 4 KVen (Mecklenburg-Vorpommern Sachsen-Anhalt, Hessen und Baden-Württemberg) solche 73c-Vereinbarungen abgeschlossen. Die KVen in Berlin und Thüringen könnten aber in diesem Jahr noch hinzukommen.


Raimund Schmid