Prof. Dr. med. Dr. lit. h.c., paed. h.c., phil. h.c. et med. h.c. mult. Theodor Friedrich Hellbrügge wäre am 23. 10. 2019 100 Jahre alt geworden. Eine Würdigung des Pioniers der Sozialpädiatrie.
Theodor Hellbrügge wurde am 23.10.1919 als ältestes von 7 Kindern einer Arztfamilie in Dortmund geboren. Sein Vater war Allgemeinarzt und für eine große Arbeitersiedlung in Dortmund zuständig. Theodor Hellbrügge begleitete seinen Vater auf Hausbesuchen; hier lernte er nicht nur die allgemeinärztliche Tätigkeit, sondern auch ihre sozialmedizinischen Aspekte kennen. Zu Kriegsbeginn war Theodor Hellbrügge 20 Jahre alt, hatte ein Jahr Medizin studiert und wurde als Feldunterarzt in den Lazarettdienst eingezogen. Was er dort erlebte, davon können wir nur vage Vorstellungen entwickeln. So berichtete er unter anderem von 200 Amputationen in 3 Tagen, um die tödlichen Folgen des Gasbrandes zu verhindern. Das Medizinstudium führte er während des Krieges in Münster und dann in München gemeinsam mit seiner Frau Jutta durch. Während seiner Staatsexamensprüfung fiel er Herrn Prof. Wiskott durch die detaillierte und durchaus sehr kritische Aufarbeitung eines Falles auf und erhielt eine Stelle, zunächst als Volontariat, am Haunerschen Kinderspital. Theodor Hellbrügge überstand den Krieg unbeschadet, die Familie durchlebte nach dem Krieg schwierige Zeiten, ausgebombt, in einer Notunterkunft, zu viert in einem Zimmer.
Er absolvierte den Facharzt für Kinderheilkunde 1951, habilitierte 1954 und wurde 1960 zum apl-Professor ernannt. Er gründete das Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin und wurde 1976 Lehrstuhlinhaber für Sozialpädiatrie. Bereits 1968 hatte er das Kinderzentrum München gegründet und hier auch den ersten Montessori-Kindergarten mit integrierter Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder, aus dem dann eine entsprechende Schule hervorging.
Prof. Hellbrügge war ein publikatorisch ausgesprochen aktiver Wissenschaftler. Er hat über 1.000 Publikationen verfasst und über 60 Bücher herausgegeben. Er hat die Zeitschriften "Der Kinderarzt", "Die Kinderkrankenschwester", "Die Kindergesundheit", die Zeitschrift "Sozialpädiatrie" und das "Teleforum kinderarzt" gegründet. Viele dieser Zeitschriften haben heute noch einen sehr großen Leserkreis. Seine wissenschaftlichen Themen waren entsprechend vielfältig, eine seiner ersten Arbeiten handelte von der Vitamin-D-Prophylaxe: So war er aktiv in der Entwicklung einer wasserlöslichen Form des Vigantol, was nicht zuletzt auch dazu beitrug, den ihm selbst aus eigener Erfahrung so verhassten Lebertrantrunk abzuschaffen.
Zusammen mit seinem Lehrer Meinhard von Pfaundler definierte er den Begriff Deprivation neu, indem er Lebensborn-Kinder untersuchte und trotz somatischer Gesundheit massivste Entwicklungsdefizite feststellte. Die Entwicklung und die Entwicklungsförderung wurde eines seiner großen Themen, nicht zuletzt führte er im Rahmen der Münchener Funktionellen Entwicklungsdiagnostik eine der größten longitudinalen Entwicklungsstudien durch, die es jemals im deutschsprachigen Raum gegeben hat.
Theodor Friedrich Hellbrügge, Gründer von zahlreichen Einrichtungen – auch die Gründung von über 200 Einrichtungen im In- und Ausland nach Vorbild des Kinderzentrums München gehen auf ihn zurück –, wissenschaftlicher Publizist, war auch Berufspolitiker. Er engagierte sich früh in den Gremien des Marburger Bundes; so gründete er die Münchner Ortsgruppe, nicht zuletzt, um die nach dem Krieg übliche Praxis des Volontariats zu beenden. Er war in den verschiedensten Gremien der Landes- und Bundesärztekammer aktiv, Mitglied der Kassenärztlichen Vereinigung und des Bundesverbandes der Kinderärzte sowie langjähriger Vorstand der Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin.
Theodor Hellbrügge hat zahlreiche Ehrungen erhalten, unter anderem den Moro-Preis, die Ernst-von-Bergmann-Medaille, die Wischnewski-Medaille und den Theodor-Heuss-Preis. Des Weiteren erhielt er den Pestalozzi-Preis, den Otto-Heubner-Preis, die Paracelsus-Medaille, den Apfelbaum der Schweizer Akademie Amriswil und die Medaille "München leuchtet". Er wurde geehrt mit dem Bayerischen Verdienstorden, der Bayerischen Staatsmedaille und dem Bundesverdienstkreuz, der goldenen Ehrenplakette des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und der Meinhard-von-Pfaundler-Medaille, und schließlich erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz aus den Händen des Bundespräsidenten.
Was war Theodor Friedrich Hellbrügge für ein Mensch? Ging es ihm darum, möglichst viele Preise und Medaillen zu bekommen? Hat er bei so viel Ruhm die Bodenhaftung verloren? Viele Äußerungen seiner ehemaligen Mitarbeiter verweisen eher auf das Gegenteil. So gibt es zahlreiche Anekdoten von "Treppenhausgesprächen", in denen an heißen Sommertagen auch mal der Schwimmbadbesuch statt Arbeiten empfohlen wurde. Persönlich teile ich den Eindruck, den viele seiner Weggefährten immer wieder äußerten: Preise und Ehrungen dienten ihm als Zweck, sein Ziel, eine Verbesserung der Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung, zu erreichen.
Sicher kann man seiner Person nur gerecht werden, wenn man auch darauf hinweist, dass er in vielen Punkten nicht unumstritten war und ist. Vehement vertretene Positionen zur Wirksamkeit von Therapien sind nicht nur aus heutiger Sicht widerlegt, sondern waren auch zum Zeitpunkt, zu dem sie von ihm geäußert wurden, nicht ausreichend evidenzbasiert. Hier wurde er dem wissenschaftlichen Anspruch, den er doch an anderer Stelle so konsequent und erfolgreich vertreten hat, nicht gerecht. Das von ihm propagierte Familienbild ist nicht nur aus heutiger Sicht problematisch, sondern hat auch schon vor 30 Jahren den Konflikt, Familie und Beruf für beide Ehepartner zu vereinen, eher verschärft. Letztendlich erfordert es der Respekt vor der Person Theodor Friedrich Hellbrügge und seinem Lebenswerk, diese Aspekte nicht unerwähnt zu lassen und kritisch-distanziert mit ihnen umzugehen.
Die Kinderheilkunde hat Professor Hellbrügge viel zu verdanken – eine ihrer größten Erfolgsgeschichten, die Früherkennungsuntersuchungen, wurden von ihm ins Leben gerufen und die moderne Sozialpädiatrie mitbegründet und weiterentwickelt – Grund genug, seiner zu gedenken.
Theodor Hellbrügge, Pionier der Sozialpädiatrie, wäre am 23. 10. 2019 100 Jahre alt geworden (*23. 10. 1919 – †21. 01. 2014).
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (1) Seite 52-55