"Mitreden-Mitgestalten" – unter diesem Motto stand der im gesamten Jahr 2019 fortlaufende Dialog- und Beteiligungsprozess zur Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII). Wie ist dieser Prozess nun im Detail verlaufen und wie sehen die Ergebnisse aus? Ist ein gutes Ende im Jahr 2020 in Sicht?
Beim Dialog- und Beteiligungsprozess handelt es sich um eine interprofessionell besetzte Arbeitsgruppe mit berufenen Vertretern der Verbände der Jugend-, Behinderten- und Gesundheitshilfe, der Kommunen und Länder und als Gäste Vertreter der Bundesministerien für Arbeit und Soziales, Gesundheit, Finanzen, Bildung und Forschung, der Arbeitsstäbe der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen sowie für Migration, Flüchtlinge und Integration sowie weiterer Institutionen.
Für die kinder- und jugendärztlichen Verbänden nahmen PD Dr. Burkhard Rodeck (DGKJ), als Vertreterin Prof. Dr. Ute Thyen (DGSPJ) und Dr. Gabriele Trost-Brinkhues (Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e. V.) regelmäßig teil, der BVKJ (Dr. Sigrid Peter) war in alle Stellungnahmen durch die pädiatrischen Verbände eingebunden. Die kinder- und jugendpsychiatrischen Verbände waren durch Prof. Dr. Michael Kölch (DGKJPP) vertreten. Als Ressourcen standen der AG Daten und Fakten zur Verfügung, die von einer Unterarbeitsgruppe bereitgestellt wurden, sowie die Ergebnisse aus verschiedenen Dialogprozessen, die seit dem Koalitionsbeschluss für die 19. Legislaturperiode in 2017 stattgefunden hatten und zum Teil noch stattfanden. Dabei handelte es sich um folgende Dialogforen:
Dialogforum zur Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe
organisiert durch den Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge mit 4 Treffen in 2017. Es fand eine Abschlussveranstaltung statt, ein Abschlussbericht wurde nicht vorgelegt.
Dialogforum Pflegekinderhilfe
beginnend im Juni 2015, organisiert durch die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH), die Beratungen werden weiter fortgesetzt. Ein Abschlussbericht liegt noch nicht vor.
Dialogforum "Bund trifft kommunale Praxis"
Seit 2017 fördert das BMFSFJ das Projekt "Dialogforum: Bund trifft kommunale Praxis – Inklusive Kinder- und Jugendhilfe miteinander gestalten" beim Deutschen Institut für Urbanistik (Difu). Zahlreiche Diskussionsergebnisse werden auf der Difu-Homepage vorgestellt.
AG Kinder psychisch kranker Eltern
Unter Federführung des BMFSFJ und unter Beteiligung von BMG, BMAS, dem Arbeitsstab der Drogenbeauftragten der Bundesregierung und relevanten Fachverbänden, Institutionen und Interessensvereinigungen sowie Experten aus Wissenschaft und Praxis wurde im März 2018 eine zeitlich befristete interdisziplinäre Arbeitsgruppe eingerichtet. Ziel der Arbeitsgruppe war die Erarbeitung von einvernehmlichen Vorschlägen zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil psychisch erkrankt oder suchtkrank ist. Bestehende Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten sowie rechtliche Rahmenbedingungen sollten geklärt und ggf. bestehender gesetzlicher Handlungsbedarf identifiziert werden. Die Arbeitsgruppe hat ihren Abschlussbericht dem Deutschen Bundestag im Dezember 2019 vorgelegt.
Zeitintensiver Prozess
Viele der am Prozess "Mitreden – Mitgestalten" Beteiligten hatten vorher oder zeitgleich an einem oder mehrerer dieser Dialogforen mitgewirkt. Die hohe zeitliche Inanspruchnahme und zum Teil mangelnde Bündelung der Prozesse wurde immer wieder von Kollegen der Verbände insbesondere aus dem Bereich der Gesundheitshilfe kritisiert. Grob geschätzt sind in 2018 bis 2019 etwa 50 Personenarbeitstage allein aus den kinder- und jugendmedizinischen Verbänden in die Begleitung und Unterstützung des Prozesses geflossen, die einer ehrenamtlichen Tätigkeit entsprechen. Insgesamt hatten während eines Jahres 5 zum Teil 2-tägige Arbeitsgruppentreffen stattgefunden, dazwischen Sitzungen von Unterarbeitsgruppen, jeweils jede Sitzung wurde durch ein vorgelegtes Arbeitspapier vorbereitet, das in einem Online-Konsultationsverfahren von den AG-Teilnehmern diskutiert und kommentiert werden konnte. Diese Kommentare waren dann Gegenstand der Sitzungen. Die anschließenden Protokolle durchliefen ein Konsentierungsverfahren. Aus den Protokollen, zahlreichen zusätzlichen Stellungnahmen und Expertisen wurde schließlich das Abschlussdokument mit konkreten Empfehlungen für die Reform des SGB VIII erstellt. Geleitet wurde der Dialogprozess von der Parlamentarischen Staatssekretärin Caren Marks, die mit persönlichem Engagement und hohem Interesse an fachlich qualifizierten Lösungen alle Sitzungen persönlich leitete. Insgesamt brachten sich mehr als 5.400 Fachleute und Betroffene ein. Die Debatten in der AG "SGB VIII: Mitreden – Mitgestalten" sind auf fast 1.300 Seiten festgehalten.
Die Beteiligung von Ärzten wurde sehr geschätzt in den Dialogprozessen und der Arbeitsgruppe. Eine Vertretung ausschließlich durch nicht klinisch tätige Ärzte oder nichtärztliche Fachleute wäre nicht zielführend gewesen, weil an vielen Stellen die konkreten praktischen Erfahrungen und die Rückmeldungen von Familien dazu führte, dass Schnitt- und Nahtstellen besser identifiziert werden konnten. Auch die Stellung der Ärzte als erste Anlaufstellen für Familien und die Herausforderung der Ärzte, als Lotse für Familien in einem oft undurchdringlich wirkenden sozialrechtlichen Dickicht zu dienen, konnte deutlich gemacht werden, und dass nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch die begleitenden Ärzte Entlastung durch Zusammenführung, Vereinfachung, mehr Beteiligung und Bürokratieabbau benötigen.
Das massive Arbeitspensum in der AG konnte nur geschafft werden durch eine extrem niedrigschwellige Kommunikation zwischen den oben genannten Akteuren, inhaltliche Abstimmungen bei strittigen Punkten mit den Vorständen oft innerhalb weniger Tage, aber auch durch eine große Portion Vertrauen untereinander.
Startschuss für ein neues Gesetz
Am 10. 12. 2019 hat Bundesjugendministerin Dr. Franziska Giffey in Berlin bei einer Fachkonferenz mit 230 Experten den Abschlussbericht des Dialogprozesses Mitreden – Mitgestalten entgegengenommen und gemeinsam mit der Parlamentarischen Staatssekretärin Caren Marks erste Ergebnisse ausgewertet. Es ist der Startschuss zur Erarbeitung eines neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes, das die Ministerin im Frühjahr 2020 vorlegen wird.
In der Pressemeldung des BMFSFJ liest sich das so: "In Deutschland leben 21,9 Millionen Menschen zwischen 0 – 27 Jahren. Zielgruppe des Gesetzes sind rund 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche in dieser Altersgruppe, die zusätzlichen Unterstützungsbedarf haben: 1,1 Million Kinder und Jugendliche in Deutschland wachsen unter schwierigen sozialen Umständen auf und sind darauf angewiesen, dass staatliche Stellen sie und ihre Familien unterstützen. Das gilt zum Beispiel für Kinder, die in Heimen groß werden oder für Kinder, deren Eltern nicht so für sie sorgen können, wie es nötig wäre, sodass das Jugendamt bei der Erziehung Unterstützung gibt. 360.000 Kinder und Jugendliche haben eine seelische, geistige oder körperliche Behinderung. Bisher sind nur die rund 100.000 Kinder mit einer seelischen Behinderung durch das Kinder- und Jugendhilferecht erfasst. Die ca. 260.000 Kinder mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung sind bisher nicht durch das Kinder- und Jugendhilferecht erfasst, sondern nur in der sogenannten "Behindertenhilfe". 31.000 junge Menschen werden im Zuge ihres 18. Geburtstags als sogenannte "Careleaver" aus der Kinder- und Jugendhilfe entlassen, einige brauchen aber weiterhin Betreuung und Unterstützung."
Was soll erreicht werden?
Die wichtigsten Ziele bei der Erarbeitung des neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes sind:- Mehr Beteiligung von jungen Menschen, Eltern und Familien
- Besserer Kinder- und Jugendschutz
- Stärkung von Pflege- und Heimkindern
- Mehr Prävention vor Ort
- Hilfen aus einer Hand für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen
Die Tatsache, dass der letzte Punkt, der nicht Gegenstand der Koalitionsvereinbarungen gewesen war, mit in dem Ergebnis sicher verankert werden konnte, ist unter anderem auch dem öffentlichen Appell für eine inklusive Jugendhilfe zu verdanken, der von den kinder- und jugendärztlichen Verbänden als Erstunterzeichner mit getragen wurde (zum Appell siehe Kinderärztliche Praxis 06/2019, Rubrik "Sozialpädiatrie aktuell" oder unter www.kipra-online.de).
Danke allen für unermüdliche Zuarbeit, Unterstützung und Engagement. Wir hoffen nun, dass es nach einem steckengebliebenen Prozess in der letzten Legislaturperiode nun zu einem guten Ergebnis für die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien kommt.
Ute Thyen, Burkhard Rodeck, Sigrid Peter, Gabriele Trost-Brinkhues
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (2) Seite 134-135