Welche psychologischen Probleme treten bei chronisch kranken Kindern und Jugendlichen häufig auf? Wie können diese Belastungen in der Kinder- und Jugendarztpraxis frühzeitig erkannt werden? Und auf welche Weise können Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte chronisch kranke Kinder und ihre Familien unterstützen? Darüber haben wir mit der Psychologin Professor Dr. Karin Lange im Podcast O-Ton Pädiatrie gesprochen.

Professor Dr. Karin Lange ist Diplom-Psychologin und engagiert sich seit Jahrzehnten für Kinder mit chronischen Erkrankungen und ihre Familien. Sie war bis 2023 Leiterin der Forschungs- und Lehreinheit Medizinische Psychologie an der Medizinischen Hochschule Hannover.
Wie viele Kinder und Jugendliche in Deutschland sind von chronischen Erkrankungen betroffen?
Professor Lange: Man ist überrascht, wie viele das sind. Schätzungen gehen davon aus, dass heute etwa jedes sechste Kind in Deutschland von einer chronischen Krankheit betroffen ist. Es gibt Daten, die von etwa 11 bis 12 % bei den Mädchen ausgehen, bei den Jungen sind es mit 16 % sogar noch etwas mehr. Dabei muss man zwischen den einzelnen Erkrankungen und den damit verbundenen Einflüssen auf das Leben der Kinder deutlich unterscheiden. Ca. 4 bis 5 % der Kinder benötigen eine umfangreiche Therapie im Alltag. Hier führt die Erkrankung wirklich zu deutlich spürbaren Beeinträchtigungen der Lebensqualität und der Teilhabe. Wenn man an z. B. Hauterkrankungen denkt, die gut behandelt werden können, ist das sicher nicht ganz so dramatisch, aber auch ernst zu nehmen.
Sehr viel aufwendiger sind Erkrankungen, wo täglich und auch sehr systematisch Medikamente gegeben werden müssen, z. B. beim Typ-1-Diabetes, oder bei denen Diäten eingehalten werden müssen, wie bei der Zöliakie. Außerdem gibt es auch chronische sehr schwere Erkrankungen, die zu einer sehr kurzen Lebenserwartung führen und trotzdem sehr aufwendig behandelt werden müssen. Sie laufen oft unter dem Begriff "rare diseases", z. B. einige angeborene Stoffwechselerkrankungen.
Welche psychologischen Probleme treten am häufigsten in Verbindung mit chronischen Erkrankungen auf?
Professor Lange: Am meisten betroffen sind zunächst erstmal die Eltern, besonders, wenn die Kinder bei Geburt oder kurz danach im Neugeborenen-Screening diagnostiziert werden, verstehen die Kinder ja selbst noch nicht, das sie chronisch krank sind. Das geht etwa bis zum dritten Lebensjahr. In dieser Zeit sind Eltern sehr, sehr schwer betroffen, sehr besorgt, müssen vieles lernen. Sie hatten sich ihr Leben mit ihrem Neugeborenen vermutlich auch ganz anders vorgestellt und stehen damit vor komplexen Aufgaben.
Das betrifft aber auch Familien, wo die Kinder erst im Verlauf der Kindheit oder Jugend, z. B. an Diabetes oder an Zöliakie, erkranken. Auch da müssen sich Familien mit dieser neuen Situation auseinandersetzen. Sie müssen lernen, diese Situation zu akzeptieren und vor allem: in ihren bisher gewohnten Alltag zu integrieren. Das ist eine große Herausforderung.
Und wie äußert sich das bei den Eltern oder bei den Jugendlichen?
Professor Lange: Bei der Diagnose ist es oft so etwas wie ein Nicht-Wahrhaben-Wollen. Man denkt: "So etwas kann uns doch nicht passieren. Das ist ungerecht, warum wir?" Es ist eine seelische Auseinandersetzung, die bei Eltern, vor allem bei Müttern, zu depressiven Symptomen, manchmal auch zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führen kann. Ein anderer Punkt ist natürlich die Sorge, der Therapie nicht Genüge leisten zu können. Das heißt, es gibt Ängste vor akuten Komplikationen, ob das Kind im Alltag, in der Schule evtl. jetzt etwas falsch macht und es deswegen in eine lebensbedrohliche Situation kommen könnte.
Und es steckt auch der Gedanke dahinter: Haben wir nicht irgendwie Schuld, dass unser Kind erkrankt ist? Hier sollten die Kinderärztinnen und Kinderärzte immer wieder etwas ganz Zentrales vermitteln: "Sie haben keine Schuld daran, dass Ihr Kind eine chronische Krankheit hat, z. B. eine Zöliakie. Es hat nichts mit der Ernährung in der Kindheit zu tun oder dem Erziehungsstil." Es hilft Eltern sehr viel, zu wissen, dass sie nichts falsch gemacht haben.
Wenn die Therapien sehr fordernd sind, d. h., man ständig etwas tun muss, das Kind Tag und Nacht überwachen muss, vielleicht sogar immer wieder Sorge hat, dass es zu ganz akuten Problemen kommt, die lebensbedrohlich sein könnten, dann sind natürlich Eltern einfach erschöpft. Sie lassen sich auch kaum Zeit für sich selbst. Auch die Partnerschaft leidet leider in vielen Fällen darunter. Die berufliche Laufbahn der Eltern, vor allem von Müttern, wird oft eingeschränkt. Das ist ein ganzer Strauß von Problemen, sodass man sagen kann: Krankheit betrifft niemanden allein, sondern immer die ganze Familie.
Welche Rolle spielen die niedergelassenen Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte in der Versorgung von chronisch kranken Kindern? Oft werden diese ja in spezialisierten Zentren versorgt.
Professor Lange: Eine gute Anbindung an eine Kinderarztpraxis, in der die Familie insgesamt gesehen wird und nicht nur die besondere Erkrankung und die zentralen physiologischen Parameter, ist sehr hilfreich. Die Ärztin oder der Arzt kann sehen, wie das Familiensystem funktioniert, um zu schauen, wie es den Eltern und wie es auch den Geschwistern geht. Gibt es da Erschöpfung seitens der Eltern? Einfach gezielt danach fragen, auch darüber nachdenken, welche Hilfsmöglichkeiten es gibt, damit Eltern nicht glauben, immer alles ganz alleine leisten zu müssen. Hilfreich ist auch der Hinweis, dass es zum Beispiel Reha-Maßnahmen gibt oder auch Schulungsangebote. Diese werden inzwischen häufig online angeboten, teilweise aber auch face to face. Dort können Eltern Hilfe bekommen.
Dieser gesamte Blick auf das Kind ist wichtig – und nicht nur zu sagen, es hat Zöliakie, es hat ADHS, es hat Diabetes, es hat Asthma –, auch die gesunden Anteile zu sehen und zu würdigen: Das ist eine enorme Leistung, die Kinderärztinnen und Kinderärzte erbringen können.
Gibt es spezifische Warnsignale, auf die in der Praxis geachtet werden sollte?
Professor Lange: Kinderärztinnen und Kinderärzte haben einen guten Blick darauf, wie sich ein Kind entwickelt, sie haben auch viele Vergleichsmöglichkeiten. Und immer dann, wenn es auffällt, dass ein Kind sich nicht mehr altersgemäß entwickelt, z. B. bei der körperlichen Entwicklung, sollte man hellhörig werden. Aber auch, wenn man sieht, dass ein Kind sich mehr zurückzieht, dass es nicht an Aktivitäten teilnimmt oder dass es auf einmal auch im schulischen Bereich oder in den kognitiven Leistungen ein Stück zurückfällt, dann können Kinderärztinnen und Kinderärzte dies ansprechen. Was sie aber auch sicherlich sehen ist, ob zum Beispiel das Versorgungssystem zu Hause stabil ist. Kümmern sich noch beide Eltern um das Kind, oder gibt es Probleme? Wird das Kind vielleicht schon überfordert, weil beide Eltern sich eher beruflich orientieren und das chronisch kranke Kind vieles alleine leisten muss, was es noch nicht kann? Hier können Kinderärztinnen und Kinderärzte einen sehr, sehr guten und klugen frühen Blick auf die Situation der Familie haben.
Und wie können Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte Betroffenen helfen, ihre emotionalen Reaktionen auf solch eine Erkrankung besser zu verarbeiten oder besser damit umzugehen?
Professor Lange: Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte sind Profis und kennen so alle Probleme, die mit der Pubertät verbunden sein können. In dieser Zeit ist das große Stichwort "Identität". Das heißt: "Wer bin ich eigentlich? Bin ich mit mir als Person zufrieden?" Dabei spielt natürlich eine chronische Krankheit manchmal eine sehr negative Rolle, weil sie ein Grund für Stigmatisierung und Ausgrenzung ist. Hier Jugendliche zu motivieren, sich nicht allein über die Krankheit zu definieren, sondern eher auf die Stärken zu schauen, auf die besonderen Fähigkeiten und diese auch als Kinder- und Jugendärztin oder -arzt anzuerkennen, darauf zu fokussieren, ist ein erster Schritt, um zu vermitteln: "Du bist viel mehr als Deine Diagnose". Diese Stärken immer wieder anzusprechen, ist ein wichtiger Punkt.
Ein anderer Punkt ist, sich bewusst zu machen, dass es einen Übergang von der Verantwortung der Eltern für die Therapie auf den Jugendlichen gibt. Das sollte man auch gezielt ansprechen, das heißt, im Gespräch mit den Eltern irgendwann deutlich machen: "Jetzt ist Ihr Sohn, Ihre Tochter der Mittelpunkt. Ich traue ihm/ihr zu, dass er/sie das Gespräch führen kann. Ich würde es sehr gern allein mit ihm/ihr führen. Wir können gerne auch noch eng in Kontakt bleiben. Aber unser Ziel sollte doch sein, dass Ihre Tochter, Ihr Sohn sich bald wirklich selbst gut um ihre/seine chronische Erkrankung kümmern kann."
- Between Jugendcoach: Chronisch krank – Hilfe beim Erwachsenwerden: https://between-kompas.de/
- Pädiatrische Schulungsprogramme für viele chronische Krankheiten, Kontakte: https://www.kompetenznetz-patientenschulung.de/
Wenn man nun feststellt, dass aus psychologischer Sicht etwas nicht stimmt, wann ist der Zeitpunkt gekommen, Kinder und Jugendliche an einenPsychologen oder an einen anderen Spezialisten zu überweisen?
Professor Lange: Das ist ein ganz wichtiger Punkt und man sollte ihn nicht verpassen. Also lieber eher als zu spät. Und dann ist es immer die Frage, was ist sozusagen das Problem dahinter? Es kann sein, dass es schlicht um eine familiäre Problematik geht. Hier sind zum Beispiel Erziehungsberatungsstellen sehr gute Ansprechpartner. Wenn also Eltern einfach nicht wissen, wie sie ein Nein auch umsetzen können; wenn sie unsicher sind, wie sie die Therapie wirklich auch manchmal gegen den Willen des Kindes umsetzen können, dann sind Erziehungsberatungsstellen sinnvoll, um dies dort anzusprechen. Bei Kindern, die im Verhalten sehr auffällig sind, sind sicherlich Kinder- und Jugendpsychiater wichtig, die diagnostisch und therapeutisch weiterhelfen können. Es können aber auch psychologische Psychotherapeuten, die sich auf das Kindes- und Jugendalter spezialisiert haben, angesprochen werden. Eventuell ist eine Kinderarztpraxis schon in Kooperation mit spezialisierten Praxen oder Einrichtungen.
Auch die Zentren, die sich um spezifische Erkrankungen kümmern, können Ansprechpartner sein, weil dort teilweise speziell ausgebildete Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche arbeiten.
Wann ist der richtige Zeitpunkt für Selbstständigkeit? Ab wann sollten Kinder z. B. mit Diabetes oder Asthma das selbst in die Hand nehmen können?
Professor Lange: Man muss einfach schauen, wie weit ein Kind entwickelt ist, und beobachten, was kann es. Bereits Grundschulkinder können viele technische Handgriffe ganz toll schon selbstständig erledigen, z. B. ein Blutzuckermessgerät bedienen oder ein anderes Gerät, was für sie und ihre Gesundheit wichtig ist.Was sie nicht so gut können, ist kontinuierlich an Dinge denken und auch strukturiert dabei vorgehen. Das passt noch nicht zum Gehirn von Kindern.
Jugendliche können manches schon besser, aber ihr Gehirn ist in der Pubertät ziemlich im Umbau. Und dann tobt das Chaos. Das heißt, so ganz ohne Coaching geht es nicht, auch wenn es dann immer heißt, die Eltern seien peinlich oder nervig. Das kann Eltern sehr fordern und belasten. Aber genau in diesem Alter kann man natürlich anfangen, Jugendlichen erste Aufgaben zu überlassen. Wenn es schon funktioniert, ist es toll – und daran wachsen sie. Und dann geht es um den nächsten Schritt. Je weiter man vorankommt, umso eher hat man auch die Chance, dass 15- oder 16-Jährige sich schon ausgesprochen verantwortungsvoll um ihre Krankheit kümmern können. Trotzdem ist es schön, wenn sie noch ein kleines Backup haben und jemand nach ihnen schaut. Wir haben ja das Ziel, dass sie, wenn sie 18 sind, das heißt volljährig sind, mit ihrer chronischen Krankheit leben sollen. Dafür benötigen sie Training. Und das geht nicht von einem Geburtstag auf den nächsten.
Was sollte man in der Praxis im Umgang mit chronisch kranken Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern immer im Auge behalten?
Professor Lange: Eines ist ganz wichtig: Chronisch kranke Kinder sind zunächst erstmal Kinder wie alle anderen Kinder. Das heißt, man sollte sie nicht anders behandeln, nicht in Watte packen, nicht überängstlich mit ihnen umgehen, nur weil sie eine chronische Krankheit haben. Sie brauchen einfach ein ganz normales Aufwachsen, in das die chronische Krankheit integriert, aber nicht zum Mittelpunkt des Lebens wird. Kinderärztinnen und -ärzte können sehr viel tun, indem sie ganz besonders auf die Stärken der Kinder, auf deren gesamte Lebenssituation schauen – und der Familie vermitteln, mit der chronischen Krankheit zu leben und nicht das ganze Leben auf die chronische Krankheit auszurichten. Das heißt, dieser ungebetene Gast "chronisch Krankheit" sollte ein bisschen in der Ecke sitzen bleiben und nicht zu sehr stören.
Interview: Angelika Leidner

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2025; 96 (2) Seite 114-116