Wie alles anfing, lebendig weiterging, einen guten Schluss nahm, aber noch nicht zu Ende ist … Ein Interview mit Professor Dr. Ute Thyen und Dr. Andreas Oberle.
Das folgende Motto von Antoine de Saint-Exupéry hat die 6-jährige Präsidentschaft von Prof. Dr. Ute Thyen und Dr. Andreas Oberle in der DGSPJ geprägt: "Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer und Frauen zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Frauen und Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer."
Was unter diesem Motto bei der DGSPJ-Präsidentschaft herausgekommen ist, haben beide im Interview mit Kipra-Redakteur Raimund Schmid bilanziert.
6 Jahre gemeinsame Präsidentschaft in der DGSPJ. Da gab es viele Etappen. Doch wie ging eigentlich alles los?
Dr. Andreas Oberle: Wir saßen 2016 auf der Treppe des Kongresszentrums in München und haben eigentlich nicht lange gefackelt mit dem gemeinsamen Entschluss, es mit der DGSPJ-Präsidentschaft zu wagen. Warum wir zwei, weiß ich bis heute nicht. Manches ergibt sich und ist dann einfach gut. Und über diese Grundsätze unserer Arbeit waren wir uns schnell einig.
- Fragen aus der Praxis hören, kennen und bearbeiten,
- nachvollziehbare und überprüfbare Qualitätsstandards setzen,
- Mitarbeit an wissenschaftlichen Leitlinien stärken und die Umsetzung vorantreiben,
- transparent intern über Standards der Versorgungsqualität sprechen.
Prof. Dr. Ute Thyen: Dein Angebot, die Präsidentschaft gemeinsam mit Dir zu machen, war verlockend. Ich war zwar zuvor bereits einmal im Vorstand der DGSPJ – von 2001 – 2004 als Vize-Präsidentin und von 2005 – 2008 als Beisitzerin. Damals war es noch nicht gelungen, manche Projekte und Themen, die mir immer wichtig waren, anzuschieben. Dazu gehörte eine wissenschaftliche Ausrichtung und die internationale Orientierung in der Sozialpädiatrie, ein bevölkerungsmedizinischer Ansatz und die Anwaltschaft für die Gesundheit aller Kinder einschließlich ihrer Teilhabe.
Wie sahen dann die ersten Schritte aus?
A. Oberle: Um den Austausch auf Augenhöhe zu verbessern, war es uns sehr wichtig, den DGSPJ-Vorstand um die Sprecherin der BAG SPZ (erstmals Juliane Spiegler) und den Sprecher des Zentralen Qualitäts-Arbeitskreises (ZQAK, Peter Borusiak) zu erweitern. Ersteres repräsentiert unser "Flaggschiff", letzteres unsere Arbeitsbasis.
Zudem konnte sich die Bundesarbeitsgemeinschaft SPZ – nach durchaus schwierigen personellen Engpässen – neu aufstellen, ebenso wie die Landesarbeitsgemeinschaften (LAG) der SPZ. Diese haben sich selbst Geschäftsordnungen gegeben, die nun die breitere Beteiligung und Vertretungsmöglichkeiten auch für die nachfolgende Generation erlauben.
U. Thyen: Wichtig war uns auch, die DGSPJ zu modernisieren, wobei dafür ein angemessener organisatorischer Rahmen geschaffen werden musste. Dafür ist die Geschäftsstelle, in der unsere Katarzyna Paul auf der Grundlage einer geringfügigen Beschäftigung gearbeitet hatte, in eine dauerhafte Präsenz von 20 Stunden/Woche weiterentwickelt worden. Eine weitere Aufstockung zur Unterstützung der BAG SPZ sowie die Begleitung des neuen Intranets der DGSPJ steht an. Diese neue sozialpädiatrische Social-Media-Plattform COYO der Firma Haiilo wurde von unserer AG Digitalisierung unter Leitung von Jens Teichler aufgespürt. Nun sind wir in der ersten Ausrollphase mit 200 Lizenzen und bald kann jede/jeder eine haben, wenn sie/er Mitglied in der DGSPJ ist. Es macht viel Spaß, darin zu stöbern und sich dabei eng auszutauschen.
Bei der DGSPJ spielen ja die SPZ eine große Rolle. Was konnten Sie hier konkret voranbringen?
A. Oberle: Eines der größeren Projekte über die gesamten 2 Legislaturperioden 2016 – 2022 war der Weg zur Zertifizierung der Sozialpädiatrischen Zentren als Institutionen in der Weiterentwicklung und Nachfolge der nur auf die SPZ-Leiter beschränkten Vorgaben. Hier machte sich die Arbeitsgruppe um Karin Hameister – in enger Zusammenarbeit mit weiteren Partnern, z. B. GKinD – zukunftsweisende Gedanken. Ein besonderes Augenmerk haben wir auf die in der Sozialpädiatrie tätigen nichtärztlichen Berufsgruppen gelegt. Die BAG der Psychologinnen und Psychologen hat dabei einen besonderen Stellenwert, die der Therapeutinnen/Therapeuten, Pädagoginnen/Pädagogen und Verwaltungsmitarbeiterinnen/-mitarbeiter muss noch deutlicher dargestellt werden.
U. Thyen: Das hohe Niveau der Qualitätssicherung und der Wunsch nach Transparenz zeigt sich an der hohen Beteiligung an der 4-jährig erfolgenden Abfrage der Strukturdaten der SPZ, die vom Vorstand mit den entsprechenden Mitteln ausgestattet und von Christoph Kretzschmar moderiert und organisiert wurde. Die Daten sind Gold wert, entkräften sie doch das Argument, die SPZ seien eine Black-Box und niemand wisse, was da drin ist. An vielen Stellen waren sie die Datenquelle, wenn es um die Darstellung sozialpädiatrischer multiprofessioneller Arbeit ging.
Natürlich gab es auch mal Kontroversen bei der Frage "Wie viele SPZ braucht die Stadt, braucht das Land?". Wobei der Vorstand hier immer klar Flagge zeigte: So viele, wie die Kinder und Jugendliche mit Teilhaberisiken oder -störungen in der Region eben brauchen.
Gab es besondere Highlights?
A. Oberle: Es war wunderbar zu sehen, dass sowohl in der BAG der SPZ, dem Verbund der stationären sozialpädiatrischen Krankenhäuser und der DGSPJ insgesamt Träger- und Machtinteressen eine eher geringe Rolle spielten und eigentlich immer von der zu versorgenden Patientengruppe her gedacht wurde. Und zwar im Hinblick
- auf gesundes Aufwachsen,
- gerechte Chancen,
- Teilhabe und
- Unterstützung der Familien und des Umfeldes.
Dabei haben wir im Verlaufe der Corona-Pandemie immer wieder frühzeitig die aus heutiger Sicht unnötigen Belastungen für Kinder und ihre Familien herausgestellt. Das war schon sehr vorausschauend.
Ging es auch mit der wissenschaftlichen Anerkennung voran?
U. Thyen: Nun ja, das liegt im Auge des Betrachters. Aber wir haben schon recht viel Lob bekommen für die deutlich verstärkten Aktivitäten der Mitglieder der DGSPJ in der Forschung. Natürlich haben dazu die neuen Förderlinien in der Versorgungsforschung – vor allem durch den Innovationsfonds – beigetragen. In vielen anderen hochrangigen Projekten war unsere Expertise in den Beiräten gefragt, z. B. Part-Child, Psych-U, Child-Protect, KOMET-SEU, Fam-Care Net. Ein größeres Verbundprojekt zur sozialpädiatrischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen während der Corona-Pandemie wurde vom BMG direkt an die Präsidentin der DGSPJ herangetragen. Das hat aktuell auch noch einmal unsere Sichtbarkeit erhöht. Auch die Anzahl und Qualität der bei den Jahrestagungen eingereichten Poster und Vorträge und die Preise sprechen dafür.
A. Oberle: Die DGSPJ hat sich immer an der Erarbeitung wissenschaftlicher Leitlinien bei der AWMF beteiligt. Das exzellente Monitoring unserer Leitlinienbeauftragten Ute Mendes hat zu einem Qualitätssprung in unserer Wahrnehmung geführt. Erstmals ist die DGSPJ anmeldende Fachgesellschaft für eine sogenannte S3-Leitlinie (Frühgeborenen-Nachsorge).
Konnten auch bei den Kongressaktivitäten neue Akzente gesetzt werden?
U. Thyen: Auf jeden Fall. Gemeinsam mit unserem "Past-President" Helmut Hollmann durften wir die Tagung der International Society of Social Pediatrics im September 2018 in Bonn ausrichten, eine sehr schöne Tagung, die sich den Themen Nachhaltigkeit, Entwicklungsförderung und Fürsorge für Kinder – auch im internationalen Vergleich – widmete und inhaltlich auf einem Top-Niveau stattfand.
A. Oberle: Aber auch unsere eigenen Kongressformate sind aufgewertet worden, insbesondere das Forum Sozialpädiatrie jeweils im Frühjahr des Jahres, gemeinsam ausgerichtet durch die BAG der Ärztinnen und Ärzte und der BAG der Psychologinnen und Psychologen. Sie sind durch exzellente Vortrags- und Fortbildungsangebote sehr attraktiv geworden. Und wir waren damit überall in der Republik präsent: 2016 Erfurt, Thüringen; 2017 Mainz, Rheinland-Pfalz; 2018 Leipzig, Sachsen, 2019 Bochum, NRW; 2020 Schwerin abgesagt – nachgeholt im Jahr 2023, 2021 virtuell; 2022 Neunkirchen, Saarland. Zudem fanden im Herbst unsere Tagungen im Rahmen der großen Kinder- und Jugendkongresse an zentraler Stelle an der Seite der DGKJ und anderer Fachgesellschaften statt.
Wie sah die Alltagsarbeit aus? Musste nicht immer wieder hart um sozialpädiatrische Versorgungsstrukturen gerungen werden?
A. Oberle: Ja, und wie! Einer der Dauerbrenner war die Ungleichbehandlung der nichtärztlichen Leistungen in der sozialpsychiatrischen und der sozialpädiatrischen Versorgung (Gesetz im SBG V, Paragraf 43a Absatz 2). Ein Strickmusterfehler in der Gesetzgebung, der zur Schlechterbehandlung der Kinder mit körperlichen und geistigen (drohenden) Behinderungen gegenüber jenen mit seelischen (drohenden) Behinderungen führt. Obwohl das Landessozialgericht Brandenburg entschieden hat, dass die nichtärztlichen Leistungen durch die GKV finanziert werden müssen, führte dies genau nicht zur Anhebung der GKV-Pauschalen, sondern mancherorts zur Kündigung der Verträge mit den Kommunen oder Landschaftsverbänden. Aber die DGSPJ wird mit ihrem kompetenten Sonderbeauftragten Carsten Wurst hier nicht lockerlassen.
U. Thyen: Ein ähnliches Langzeitprojekt ist die tatsächliche Implementierung einer Teilhabeorientierung und vermehrten Beteiligung aller Kinder und Jugendlichen an allen Angelegenheiten, die ihr Leben betreffen. Auf der Ebene der individualmedizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Gesundheitsstörungen und Behinderungen zielte das Bemühen insbesondere auf die Nutzung der ICF in der Praxis, weniger als Codierungsinstrument, sondern als Leitfaden für eine teilhabeorientierte Diagnostik und Förderplanung. Diese Arbeit hat insbesondere Heike Philippi schon lange vor unserer Präsidentschaft federführend begleitet, auch mit entsprechenden wissenschaftlichen Projekten. Da nun die inhaltliche Arbeit und die Entwicklung von Schulungs- und Fortbildungsmaßnahmen weiter vorangeschritten war, konnten wir im Schulterschluss mit der Vereinigung Interdisziplinäre Frühförderung (VIFF e. V.) eine gemeinsame Schulung weiterentwickeln.
Konnten auch im Bereich Child Public Health neue Weichen gestellt werden?
U. Thyen: Ja. Wir halten es für erforderlich, neben dem individualmedizinischen Blick auf einzelne von Krankheit oder Behinderung betroffene Kinder gerade in Krisenzeiten auf die gesamte Gruppe der Kinder und Jugendlichen zu schauen und auf gesundheitsschädliche Lebenswelten und -bedingungen hinzuweisen. Daher haben wir intensiv im Zukunftsforum Public Health mitgewirkt. Zudem wurde hier unsere Position durch die Mitwirkung unseres Vorstandsmitglieds und Ärztin für das Öffentliche Gesundheitswesen Ulrike Horacek im Corona-KiTa-Rat des BMFSFJ sowie die Beratungstätigkeit der Präsidentin im BMG gestärkt. Dabei ist auch wie nie zuvor – gerade während der Corona-Pandemie – die große Bedeutung aber auch extreme Belastung der kinder- und jugendärztlichen Dienste im ÖGD offenkundig geworden.
Und darüber hinaus?
U. Thyen: Darüber hinaus haben wir uns sehr intensiv an dem Projekt der Reform der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) und der sogenannten "großen Lösung" auf bundespolitischer Ebene beteiligt. Diesmal ist tatsächlich ein Gesetz verabschiedet worden, das explizit die Inklusion der Kinder und Jugendlichen mit chronischen Gesundheitsstörungen beschreibt.
A. Oberle: Die Umsetzung soll stufenweise erfolgen und sicherlich wird es in der praktischen Umsetzung noch zu vielen Reibungsverlusten kommen.
Hoffen wir, dass sich regionale (sozialpädiatrische) Verantwortungsgemeinschaften bilden, die die Umsetzung und Weiterentwicklung begleiten. Doch bislang werden Erfahrungen aus der Kinder- und Jugendmedizin von der Jugendhilfe zum Teil leider nur sehr zurückhaltend aufgenommen.
Wie sehen Sie die Stellung der DGSPJ im Konzert mit den anderen pädiatrischen Fachgesellschaften und Verbänden?
A. Oberle: Wir haben uns intensiv über die gesamten 6 Jahre an den Diskussionen und Reformprozessen zur Modernisierung der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ e. V.) beteiligt. Dazu haben wir uns offen gezeigt für eine Beteiligung auf Augenhöhe von mehr Bündnispartnerinnen und -partneren etwa aus der Pflege und von Elternverbänden und eine Rotation der Position im Geschäftsführenden Vorstand neben den großen Playern DGKJ und BVKJ. Die DGSPJ stellt derzeit für 3 Jahre den stv. Vorsitzenden– ein sichtbares Zeichen in das Vertrauen in mich als Vertreter der DGSPJ im Bündnis.
U. Thyen: Der Prozess war beschwerlich, auch riskant, aber zum Schluss erfolgreich. Wir konnten beispielsweise überzeugen, dass die Nachfolgeorganisation den Namen trägt "Bündnis für Kinder- und Jugendgesundheit e. V." mit dem Motto: "Unsere Kinder. Unsere Verantwortung." Unter diesem Label soll künftig die anwaltschaftliche Vertretung der Kinder und Jugendlichen in Fragen von Gesundheit und Krankheit gemeinsam mit einer Stimme nach außen in die Öffentlichkeit und in die Politik getragen werden. Ob das endlich gelingt, wird die Zukunft zeigen.
Wo sind weitere offene Baustellen, die noch nicht abgeschlossen werden konnten?
A. Oberle: Sehr bedauerlich für uns beide ist, dass die Etablierung der ärztlichen Zusatzweiterbildung "Spezielle Sozialpädiatrie" (ZWB SSP) immer noch nicht gelungen ist. Zwar sind wir auch hier – insbesondere durch den Beauftragten des Vorstandes für die ZWB SSP Volker Mall – weitergekommen, weil wir erstmals einen Schulterschluss mit allen pädiatrischen Fachverbänden erreichen konnten. Im Hinblick auf die pädiatrischen Subspezialitäten waren dies insbesondere die Berücksichtigung der Belange aller Kinder und Jugendlichen mit chronischen Gesundheitsstörungen und im Hinblick auf den Berufsverband die Entwicklung einer berufsbegleitend zu erwerbenden Zusatzweiterbildung.
Warum gab es aber bislang dennoch keinen Durchbruch?
U. Thyen: Der Diskussionsprozess um Möglichkeiten einer berufsbegleitenden Zusatzweiterbildung als recht neuem Format bedurfte vieler Beratungen durch Expertinnen und Experten insbesondere aus den Landesärztekammern. Aus Sicht der DGSPJ ist es gelungen, eine Konzeption zu entwickeln, wie in Weiterbildungsverbünden und durch eine starke kompetenzbasierte Ausrichtung der Erwerb von Kenntnissen und Handlungskompetenzen sichergestellt werden kann. Dennoch konnten in den Landesärztekammern viele Fragen hinsichtlich der Skalierbarkeit, der Transparenz, der Vergleichbarkeit und der Überprüfung der Qualität der Ausbildung insbesondere aus juristischer Sicht noch nicht abschließend geklärt werden. Der weitere Diskussionsprozess wird nun vorrangig in den Gremien der Ständigen Konferenz für Weiterbildungsfragen der 17 Landesärztekammern geführt. Hier geht es um die Grenzziehung, was einer Zusatzweiterbildung und was einer Fortbildung entspricht. Die DGSPJ hält an der Notwendigkeit einer klinischen Ausbildung an (und mit) Patientinnen und Patienten fest, was den Rahmen einer Fortbildung deutlich überschreitet. Die Bundesärztekammer schlug aktuell vor, zwischenzeitlich erst einmal Fortbildungsmöglichkeiten auszubauen. Vorbehalte gibt es aber auch von Seiten der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die ebenfalls noch nicht ausgeräumt werden konnten. Zum aktuellen Zeitpunkt ist daher eine erneute Antragstellung beim Deutschen Ärztetag 2023 in Essen nicht zielführend. Deshalb werden hier unsere Nachfolger weiter stark gefordert sein.
Ute Thyen und Andreas Oberle danken den Genannten und den vielen Nichtgenannten für die gute gemeinsame Zeit, die große Unterstützung, die konstruktiven Gespräche und Diskussionen und auch für die immer wieder erforderliche Geduld.
Allen für die Zukunft alles Gute – auch unserer DGSPJ!
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2023; 94 (1) Seite 53-57