Eine Analyse der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin zeigt deutliche Unterschiede auf.
Die einzelnen Bundesländer füllen das Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) durch ihre eigenen Kinderbetreuungsgesetze und landesspezifischen Empfehlungen weitgehend eigenständig aus. Hinsichtlich bedarfsgerechter Angebote bei der U3-Betreuung fallen die Ergebnisse aber höchst unterschiedlich aus, wie die folgende Analyse der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin zeigt.
Die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik wird jährlich erfasst, gebündelt und vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) und der TU Dortmund ausgewertet; jährlich liefert der von der Bertelsmann-Stiftung herausgegebene "Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme" viele Informationen zur Situation der FBBE (frühe Bildung, Betreuung und Erziehung) in Deutschland und seinen Bundesländern. So gibt es in der kürzlich erschienenen Ausgabe 2015 eine Abbildung, in der die vertraglich vereinbarten Betreuungszeiten in der Kindertagesbetreuung für Kinder unter 3 Jahren dargestellt sind (s. Abb. 1). Es zeigt sich, dass knapp 16 % der U3-Kinder bis zu 25 Stunden wöchentlich, knapp 30 % 25 – 35 Std., 55 % darüber hinausgehend (45 Stunden) institutionell betreut werden.
In Westdeutschland befinden sich knapp 30 %, in Ostdeutschland knapp 60 % der U3-Kinder in der Maximalkategorie.
Einen großen Anteil hoher Betreuungszeiten verzeichnen vor allem Saarland, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Berlin. In der Kindertagespflege sind die Betreuungszeiten im Mittel kürzer: So werden in Baden-Württemberg fast 2/3 der U3-Kinder bis 25 Stunden in Kindertagespflege betreut. Aber die Abbildung zeigt auch: Der Anteil der Kinder in Kindertagespflege beträgt in Baden-Württemberg nur 14 %, in Sachsen hingegen 91 %. In Mecklenburg-Vorpommern wiederum kommen nur äußerst selten kurze Betreuungszeiten vor; für über 70 % der U3-Kinder gibt es eine garantierte Betreuungszeit von 45 Wochenstunden.
Interessant ist folgende Beobachtung: In Rheinland-Pfalz besteht ab dem vollendeten 2. Lebensjahr in vollem Umfang Beitragsfreiheit, und zwar für die vertraglich vereinbarte Betreuungszeit. Dennoch nehmen hier "nur" ca. 45 % der Eltern die maximale Betreuungszeit für ihr U3-Kind in Anspruch – kaum weniger als in Gesamtdeutschland.
Studienlage
Im Memorandum der DGSPJ zur frühen außerfamiliären Kinderbetreuung (2012) wird ausgeführt, welchem kontinuierlichen Wandel Familienstrukturen und Betreuungsformen unterworfen sind und wie diese miteinander in Wechselbeziehung stehen. Es wurde veröffentlicht, kurz nachdem die Ergebnisse der NUBBEK-Studie gezeigt hatten, dass nach wie vor der Einfluss der Familie auf die kindliche Entwicklung um ein Vielfaches größer ist als der durch jedwede institutionelle Betreuung. Aus internationalen Analysen, vorwiegend aus den USA (NICHD), wissen wir, dass die außerfamiliäre institutionelle Betreuung den Einfluss eines ungünstigen familiären Umfelds nur begrenzt kompensieren kann. Voraussetzung dafür ist eine hohe – d. h. sehr gute, nicht nur gute – Qualität der Einrichtung und der dort erfolgenden pädagogischen Arbeit.
Im Kleinkindalter wurden in der NUBBEK-Studie keine grundlegenden – familienunabhängigen! – Entwicklungsunterschiede zwischen institutionell und familiär betreuten Kindern festgestellt; leider gab es dabei keine Differenzierung nach Betreuungsumfang bei ohnehin überschaubarem Stichprobenumfang.
Leider ist in den KiGGS-Erhebungen (Basiserfassung, erste und zweite Welle) des Robert Koch-Instituts der tägliche Betreuungsumfang nicht mit erfragt worden; erfasst ist lediglich, ob überhaupt außerfamiliäre Betreuung stattfand – dies ist heute ab dem Alter von 3 Jahren fast die Regel – sowie das Alter bei Betreuungsbeginn. Von daher kann nur die institutionelle Betreuungsdauer in Jahren bzw. Monaten berechnet und danach stratifiziert werden. Vor diesem Hintergrund ist die Studie für die Frage nach geeigneten täglichen Betreuungszeiten nicht hilfreich, wenngleich Schlack et al. [1] herausgearbeitet haben, dass es zwischen den familiär und institutionell betreuten Kindern in der Querschnitts-Kohorte keine generellen Unterschiede in der psychischen Gesundheit und im Sozialverhalten gab.
Zusammenfassende Überlegungen
Im Mittelpunkt aller Überlegungen sollte auf jeden Fall das Kindeswohl stehen und kein wie auch immer entstandenes oder geartetes theoretisches Paradigma. Dies ergibt sich aus der zentralen Forderung des Art. 1 Abs. 3 der UN-Kinderrechtskonvention.
Bei langen Betreuungszeiten und unzureichender Struktur- und Prozessqualität der außerfamiliären Betreuungsform mögen im Einzelfall ungünstige Auswirkungen auf seelische Gesundheit und Verhalten des Kindes zu befürchten sein. So fordert das DGSPJ-Memorandum zu Recht eine differenzierte Betrachtung und Abwägung aller Entscheidungen im Kontext der FBBE: Eine verallgemeinernde Empfehlung wird strikt abgelehnt.
Zu den Faktoren, die individuell in Bezug auf das Kind zu berücksichtigen sind, gehören sein jeweiliger Entwicklungsstand, vor allem im emotionalen Bereich und dem der Selbstständigkeitsentwicklung, seine Persönlichkeits- und Temperamentseigenschaften sowie Art und Stabilität seines Bindungsverhaltens. Vonseiten der Familie sind zu nennen: protektive Faktoren, wie die Fähigkeit und Möglichkeit der primären Bezugspersonen, auf das Kind in der "Familien-Zeit" bewusst einzugehen und dadurch die Primärbindung aufrechtzuerhalten bzw. zu stärken. Ohne Zweifel wird dies begünstigt durch eigene Persönlichkeitsstärke, durch Beobachtungsgabe, Feinfühligkeit und Empathie, aber auch durch Bildungsnähe. Eine stabile, in der Freizeit entlastende sozioökonomische Situation, konstante Konstellationen und Verfügbarkeiten innerhalb der Haushaltsgemeinschaft, ggf. verlässliche Unterstützungssysteme dürften entscheidende vorteilhafte Determinanten sein.
Letztlich ist ein sehr sorgfältiges Berücksichtigen und Abwägen dieser Vielzahl von Faktoren vonnöten, um einen angemessenen, d. h. für das Kind und seine Gesamtentwicklung zuträglichen Betreuungsumfang individuell abzuschätzen. Im Gefolge ist ein geschulter Blick und eine Betrachtung aus mehreren Perspektiven erforderlich, um einzuschätzen, inwieweit die Erwartungen erfüllt sind. Die wird vor allem daran gemessen, ob sich das Kind augenscheinlich wohlfühlt und die Entwicklungsaufgabe "frühe außerfamiliäre Betreuung" schon bewältigt. Nicht zuletzt zählen berechtigterweise vorausschauend strukturierte, flexible und ausreichend lange Eingewöhnungsphasen zu Kriterien der Prozessqualität, sodass Zeit für Beobachtung und ggf. Anpassung des Betreuungsumfangs bleibt.
Aufgrund ihrer familiennahen Struktur dürfte die Kindertagespflege generell günstigere Voraussetzungen für einen höheren Betreuungsumfang junger Kinder bieten als z. B. die Betreuung in einer großen altersgemischten Kita-Gruppe. Besonders förderlich wird ein hohes pädagogisches Geschick der Tagespflegeperson sein, das sie befähigt, eine solide Vertrauensbasis zum betreuten Kind aufzubauen, und zwar im Sinne einer tragfähigen Sekundärbindung. Dadurch reduziert sich das Risiko, mit den Hauptbezugspersonen des Kindes um die Primärbindung(en) zu konkurrieren – eine Gefahr, die bei langen Betreuungszeiten nicht außer Acht gelassen werden darf.
Fazit
Zusammenfassend wird deutlich, dass es unumgänglich ist, Entscheidungen zum Betreuungsumfang sehr sorgfältig und individuell zu treffen. Dabei sind die konkreten Rahmenbedingungen der Betreuungsform und der familiäre Hintergrund in all seiner Komplexität zu berücksichtigen. Vor allem aber sind die Bedürfnisse und Eigenschaften des Kindes zu würdigen.
Vonseiten des Trägers einer Kinderbetreuungseinrichtung wird in Einzelfällen der Austausch mit der Fachberatung sinnvoll sein. Vor allem aber werden Kinder- und Jugendärzte den Eltern, die sich mit Fragen des Betreuungsumfangs für ihr Kind auseinandersetzen, gerne mit ihrer Expertise zur Verfügung stehen und die individuellen Entscheidungsprozesse fachlich unterstützen.
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2016; 87 (5) Seite 332-334