Die Behandlung frühkindlicher Fütterstörungen findet zunehmend auch bei Kindern mit Migrationshintergrund statt. Hier sind die unterschiedlichen Ernährungspraktiken, Eltern-Kind-Interaktionen, Normvorstellungen etc. zu berücksichtigen. Wie ein kultursensibler Ansatz gelingen kann, zeigt dieser Beitrag - auch anhand von zwei Fallbeispielen.
Einleitung
Die Behandlung frühkindlicher Fütterstörungen findet zunehmend in von Migration geprägten Kontexten statt. So haben in Deutschland mehr als 40 % aller Kinder unter 5 Jahren einen Migrationshintergrund [1]. Die sich hierdurch erweiternde kulturelle Diversität wird auf verschiedenen Ebenen in der Therapie relevant. Neben etwaigen sprachlichen Differenzen und unterschiedlichen Kommunikationsstilen ist mit variierenden Ernährungspraktiken und Eltern-Kind-Interaktionsstilen zu rechnen. So sind nicht nur Art und Zubereitung von Speisen, sondern auch Auffassungen, Normvorstellungen und Praktiken rund um die frühkindliche Ernährung äußerst vielgestaltig [2]. In kulturvergleichender Perspektive zeigen sich zudem systematische Unterschiede in den Interaktionen und Beziehungsformen zwischen Eltern und Kindern [3]. Der kulturelle Faktor ist gleichermaßen bei den behandelten Familien wie den behandelnden Fachkräften und Institutionen zu sehen. Auch wenn die Standards und Leitlinien zur Behandlung von Fütterstörungen wissenschaftlich begründet werden [4], reflektieren sie zugleich kulturspezifische Ernährungsnormen des euro-amerikanischen Raums, dem die Forschung größtenteils entstammt [5].
Bei ungenügender Berücksichtigung können diese kulturellen Differenzen zu Fehleinschätzungen und Missverständnissen in der Elternberatung führen und damit den Therapieerfolg beeinträchtigen [6]. In diesem Beitrag stellen wir eine Reihe von Fallstricken vor, die sich bei der Behandlung vietnamesischer Familien im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) am Vivantes Klinikum im Friedrichshain (Berlin) gezeigt haben. Damit möchten wir Fachkräfte für die kulturelle Variabilität von Ernährungspraktiken und die Notwendigkeit sensibilisieren, die elterlichen Praktiken und Sichtweisen verstärkt im Diagnose- und Behandlungsprozess zu berücksichtigen.
Behandlung von Fütterstörungen am SPZ des Vivantes Klinikums im Friedrichshain
Hier stellt die Behandlung von Fütterstörungen schon seit vielen Jahren einen Arbeitsschwerpunkt dar. Dabei hat sich eine interdisziplinäre Betrachtung der Füttersituation bewährt, die das Zusammenspiel der Eltern-Kind-Interaktionen, der Komorbiditäten und der kindlichen Entwicklung berücksichtigt. Sprachtherapeutische, kinderärztliche, gastroenterologische und psychologische Experten erarbeiten zunächst im Rahmen eines diagnostischen Prozesses ein Bedingungsgefüge. Dabei wird die orofaziale, senso-motorische, regulatorische und autonome Entwicklung des Kindes betrachtet. Basierend auf den entsprechenden Befunden wird daraufhin ein Behandlungsplan inklusive einer Elternberatung und -anleitung in Anlehnung an aktuelle Leitlinien erstellt.
Während sich die interdisziplinäre Therapie von Fütterstörungen insgesamt bewährt hat, zeigten sich vergleichsweise geringe Behandlungserfolge bei vietnamesischen Familien, die im Einzugsgebiet des Klinikums einer der größten migrantischen Gruppen angehören [7]. Dies äußerte sich durch eine im Behandlungsverlauf gleichbleibende Fütterinteraktion bei Gewichtsstagnation oder marginaler Gewichtszunahme des Kindes. Offenkundig lag dies nicht an mangelnder Bereitschaft der Eltern. Diese bekundeten wiederholt ihre Sorge, dass ihr Kind zu wenig esse und zu wenig zunehme und verfolgten somit grundsätzlich dasselbe Ziel wie das SPZ, dessen Behandlungsauftrag immer auch die Sicherung einer angemessenen Gewichtszunahme des Kindes umfasst. Auch stimmten die Eltern den Handlungsvorschlägen der Fachkräfte meist uneingeschränkt zu, ohne diese jedoch konsequent im familiären Setting umzusetzen. In der interdisziplinären Zusammenarbeit stellte sich daher immer wieder die Frage, wie diese Ambivalenz zu erklären sei.
Kulturanthropologische Kooperation bei der Versorgung vietnamesischer Familien
Um den Hintergründen nachzugehen, nahm das SPZ eine Kooperation mit einem kulturanthropologischen Forschungsprojekt auf, das zu Familien mit vietnamesischer Migrationsgeschichte in Berlin forscht und dabei auch deren Ernährungspraktiken in den Blick nimmt (TP A01 am SFB 1171, Freie Universität Berlin). Über den Zeitraum von 2 Jahren begleiteten Mitarbeiter des Projekts die Therapie mehrerer Familien, führten Nachbesprechungen mit den Fachkräften durch und interviewten die betroffenen Familien. Hierbei zeigte sich, dass den beschriebenen Ambivalenzen häufig divergierende Normvorstellungen zum Füttern bei Fachkräften und vietnamesischen Eltern zugrunde lagen. Diese erwiesen sich als Fallstricke in der Elternberatung und erschwerten die häusliche Umsetzung der Therapieempfehlungen. Die Exploration der elterlichen Sichtweisen verbesserte die Verständigung und das Vertrauensverhältnis, womit es möglich wurde, nach individuell zugeschnittenen, für beide Seiten akzeptablen Lösungswegen zu suchen.
Die im Folgenden beschriebenen Fallstricke basieren auf Erfahrungen mit einigen vietnamesischen Familien, weshalb sich aus ihnen keine allgemeingültigen Anleitungen für die Diagnose und Behandlung von Fütterstörungen im Migrationskontext ableiten lassen. Sie zeigen aber beispielhaft verschiedene Dimensionen potentieller kultureller Varianz auf und bieten somit Ansatzpunkte für die in jedem Einzelfall neu zu explorierenden Elternperspektiven.
Fallstricke bei der Behandlung von Fütterstörungen im Migrationskontext
Nahrungsmittel
Die Wahl geeigneter Nahrungsmittel ist entscheidend für den Behandlungserfolg. Jedoch können Nahrungsvorschriften sowie Vorstellungen darüber, welche Nahrungsmittel für Kinder geeignet sind, wie sie wirken und in welcher Form sie zubereitet werden, kulturell stark variieren. In Vietnam, wie in vielen anderen Weltregionen, ist beispielsweise eine humorale Lehre verbreitet, die Nahrungsmitteln entweder einen wärmenden oder kühlenden Effekt zuschreibt [6]. Die hieraus resultierenden Gebote der Nahrungsmittelwahl können den Therapieempfehlungen widersprechen und diese für Eltern schwer annehmbar machen.
Daneben ist stets mit globalisierungs- und migrationsbedingten Einflüssen zu rechnen. Wie in Fallbeispiel 1 dargestellt, bestehen einige vietnamesische Mütter darauf, ihren Kindern große Mengen Kuhmilch zu verabreichen. In Vietnam, wie in anderen asiatischen Ländern, wurde Kuhmilch erst kürzlich als neues, westlich konnotiertes Nahrungsmittel mit dem Versprechen eingeführt, dass es Kinder größer und intelligenter werden lässt. Mit der Migration nach Deutschland wird Milch vergleichsweise erschwinglich und folglich extensiv in der Ernährung von Kleinkindern eingesetzt.
Responsives versus proaktives Füttern
Die behandelten vietnamesischen Eltern tendierten zu einem proaktiven Füttern, indem sie den Vorgang der Nahrungsaufnahme stark kontrollierten und dem Kind eine passive Rolle zuwiesen. Dem gegenüber steht das Behandlungsziel, die selbstregulierte Nahrungsaufnahme des Kindes durch eine responsive Rolle der Bezugsperson zu fördern. Wie in Fallbeispiel 2 ließen sich Mütter jedoch allenfalls widerstrebend auf eine responsive Rolle ein oder fielen häufig in ein proaktives Füttern zurück, insbesondere nach längeren Behandlungspausen.
Das proaktive Füttern der vietnamesischen Mütter ist nicht allein aus der Fütterstörung heraus zu erklären, sondern entspricht einer in Vietnam etablierten Praxis des Fütterns, die als đút (wörtlich: hineinschieben) bezeichnet wird. Diese Fütterpraxis ist wiederum eingebettet in ein verbreitetes Ideal von proaktiver elterlicher Fürsorge im Rahmen einer hierarchisch-interdependenten Eltern-Kind-Beziehung.
Konzentration versus Ablenkung
Wie in Fallbeispiel 2 setzten die vietnamesischen Mütter häufig Ablenkungsstrategien beim Füttern ein. Gemäß den Behandlungsempfehlungen wurde in solchen Fällen eine möglichst ablenkungsarme Füttersituation geschaffen, damit sich das Kind bestmöglich auf das Essen konzentrieren konnte. Allerdings schienen Eltern diese Praxis kaum dauerhaft zu übernehmen. Dies zeigte sich etwa bei einer Familie nach längerer Behandlungspause. Zu Beginn der Sitzung präsentierte die Mutter ihrem Kind ein Spielzeug und begann es zu füttern, sobald es zu spielen begonnen hatte. Unsere Forschung zeigt, dass vietnamesische Eltern in Berlin ebenso wie in Vietnam routinemäßig für Ablenkung beim Füttern sorgen bzw. eine Spielphase des Kindes für die Mahlzeit nutzen. Ein solches Muster geteilter Aufmerksamkeit in der Eltern-Kind-Interaktion wurde in zahlreichen nicht-westlichen Kontexten beobachtet und mit der Tendenz zur exklusiven Aufmerksamkeit in westlichen Mittelschichtsfamilien kontrastiert [3].
Feste versus flexible raum-zeitliche Strukturierung
Die meisten vietnamesischen Eltern ließen eine hohe zeit-räumliche Flexibilität bei den Mahlzeiten ihrer Kinder erkennen. In diesen Fällen zielte die Elternberatung darauf, die Dauer einzelner Mahlzeiten zu verkürzen, den zeitlichen Abstand zwischen ihnen zu vergrößern, nächtliches Füttern zu reduzieren und einen festen Rhythmus einzuführen. Damit sollte für ausreichend Hunger und eine klare Trennung zwischen Schlaf- und Wachphasen beim Kind gesorgt werden. Auch wurde eine stärkere räumliche Abgrenzung der Mahlzeiten angestrebt, etwa durch die Platzierung des Kindes in einem Kindersitz am Tisch. Die Eltern schienen diese Empfehlungen jedoch nicht konsequent umzusetzen. Nach unserer Forschung folgten sie einem alternativen, in Vietnam und anderen asiatischen Gesellschaften weitverbreiteten Modell. Demzufolge haben Ernährungspraktiken eine große sozio-emotionale Bedeutung [8]. Sie gelten als zentrale Ausdrucksform von elterlicher Liebe und werden regulär sowohl zur Belohnung als auch zur Beruhigung von Kindern eingesetzt. Die Orientierung an emotionalen Motiven steht einer fixen zeitlichen und räumlichen Strukturierung der Mahlzeiten entgegen.
Widersprüchlicher Rat durch Fachkräfte und Angehörige
Unsere Interviews haben gezeigt, dass die vietnamesischen Eltern in der Regel auch von ihren Angehörigen in Berlin und Vietnam Ratschläge erhalten, die häufig im Widerspruch zu den Therapieempfehlungen des SPZ stehen. Auch berichteten Mütter, dass sie von ihren Eltern oder ihrem Ehemann für das Untergewicht ihres Kindes verantwortlich gemacht wurden und beträchtlichen Druck erfuhren, für eine Gewichtszunahme des Kindes zu sorgen. Hier kommt das Modell des proaktiven Fütterns zum Tragen, demzufolge die Mutter die kindliche Nahrungsaufnahme aktiv reguliert. Der divergierende Rat erschwert nicht nur die häusliche Umsetzung der Lernerfahrungen aus der Therapie, er kann zudem zu einer erheblichen Verunsicherung der Eltern und Kinder führen.
Vorteile eines kultursensiblen Ansatzes
In der therapeutischen Praxis hat es sich als sehr gewinnbringend erwiesen, die kultur- und migrationsbedingten Sichtweisen und Praktiken der Eltern zu explorieren und im Diagnose- und Beratungsprozess zu berücksichtigen. Dies half zuallererst, Missverständnisse zwischen Fachkräften und Eltern zu vermeiden bzw. aufzuklären. In vielen Fällen verbesserte sich hierdurch auch merklich die therapeutische Beziehung, was sich vor allem durch größere Offenheit der Eltern bemerkbar machte. Vermutlich war hierfür ausschlaggebend, dass sich Eltern besser verstanden und in ihren Sichtweisen respektiert fühlten. Schließlich ermöglichte der so erreichte Verständigungsprozess die gemeinsame Entwicklung individuell zugeschnittener Lösungswege, die den Behandlungszielen entsprachen und gleichzeitig für die Eltern annehmbar waren (siehe Fortsetzung des Fallbeispiels 1).
Fazit
Die beschriebenen Fallstricke stellen Erkenntnisse aus qualitativer Forschung in der Arbeit mit vietnamesischen Familien dar und lassen sich somit nicht verallgemeinern oder gar in allgemeingültige Behandlungsstandards übersetzen. Dies wäre auch nicht zielführend, da kulturelle Diversität gerade ein individuelles Vorgehen erfordert. Die Fallstricke werfen Fragen auf, die in jedem Einzelfall neu beantwortet werden müssen:
- Welche Überzeugungen und Normvorstellung stehen möglicherweise hinter den Fütterpraktiken der Eltern?
- Inwieweit sind die eigenen Empfehlungen medizinisch geboten oder reflektieren ebenfalls kulturell bedingte Präferenzen?
- Welche neuen Lösungswege lassen sich finden, die sowohl für die Fachkräfte als auch die Familien akzeptabel sind?
Eine Sensibilisierung für kulturelle Unterschiede ermöglicht es, innerhalb des diagnostischen Prozesses eine Haltung einzunehmen, die von Offenheit, Wertschätzung und Respekt für persönliche und kulturelle Diversität geprägt ist. In kultursensitiven Beratungs- und Therapieprozessen ist es wichtig, dass sich die Fachkräfte auch ihrer eigenen normativen Haltungen bewusst werden [9]. Dies ermöglicht es ihnen, die Einstellungen der jeweiligen Klienten ergebnisoffen zu erfragen, um sie im fallspezifischen Bedingungsgefüge und in der Beratung zu berücksichtigen.
Sozialpädiatrie lebt von Interdisziplinarität, auch über die medizinischen Disziplinen hinaus. Die Kooperation mit einem kulturanthropologischen Projekt ermöglichte einen noch besseren kulturspezifischeren Zuschnitt des Behandlungsangebots und erhöht damit die teilhabeorientierte Ausrichtung der Behandlung sowie die elterliche Adhärenz therapeutischer Interventionen.
- Normen und Praktiken des Fütterns sind kulturell hochgradig variabel.
- Etablierte Leitlinien zur Behandlung frühkindlicher Fütterstörungen können, häufig unmerklich, im Widerspruch zu den elterlichen Normvorstellungen stehen.
- Die ergebnisoffene, kultursensible Exploration der elterlichen Sichtweisen ermöglicht ein besseres Vertrauensverhältnis, die Entwicklung fallspezifisch zugeschnittener Lösungswege, eine erhöhte Adhärenz und verkürzte Behandlungsdauer.
Gabriel Scheidecker¹, Susan Spallek², Kieu Nga Tran¹, Diemut Geigenmüller², Birgitt Röttger-Rössler¹ | ¹Freie Universität Berlin, Sonderforschungsbereich 1171 Affective Societies, Berlin; ²Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Sozialpädiatrisches Zentrum, Berlin
Dr. Gabriel Scheidecker
Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt in Zusammenhang mit diesem Beitrag besteht.
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (2) Seite 98-102