Elke Garbe, mit einem Vorwort von Karl Heinz Brisch. 2. Aufl., 316 Seiten, gebunden. 2016, Klett-Cotta, ISBN 978-3-608-94879-0; 37,95 Euro

Entwicklungstrauma – was ist denn das nun wieder? Wieder eine neue Diagnose? In dem höchst verdienstvollen Buch, zu dem Karl Heinz Brisch ein sehr wertschätzendes Vorwort schrieb, werden traumatische Erfahrungen von Kindern als Entwicklungstraumatisierungen (Developmental Trauma Disorder) bezeichnet und die Unterschiede zur posttraumatischen Belastungsstörung Erwachsener deutlich herausgearbeitet. Dabei geht es hauptsächlich um Komplextraumatisierungen, also weniger um einmalige Ereignisse in einem sonst "normalen" Leben, sondern um ein Leben in andauernden Belastungssituationen verschiedenster Art.

Unterschiedliche traumatische Erfahrungen wie Bindungsabbrüche, körperliche und seelische Gewalt, Vernachlässigung, Missbrauch, Flucht und Vertreibung führen zu einer schweren Störung einer altersentsprechenden Entwicklung des Selbst- und Weltbildes. Traumatisierungen in der Kindheit, vor allem, wenn sie durch Bindungspersonen verursacht werden, können dafür verantwortlich sein, dass das Leben nicht oder nur noch sehr schwer gestaltet werden kann. Ausgeliefertsein und Ohnmachtserleben bei gleichzeitigem Bindungsbedürfnis und Abhängigkeit führen zu Bewältigungsversuchen, die von der Umwelt nicht verstanden und als wechselndes und nicht altersgemäßes Verhalten interpretiert werden. In traumatischen Situationen als notwendige Überlebenssicherung entstandene Verhaltensweisen können fortdauern und sich abspalten, so entstehen Dissoziationen. Sie enthalten oft Informationen über die unverarbeiteten Gewalterfahrungen.

Nach einem theoretischen Teil, der die Entstehung kindlicher Entwicklungstraumatisierungen, deren Typen und Formen, die neurobiologischen Grundlagen der Traumabewältigung, die Entwicklung des Selbst unter normalen und traumatisierten Bedingungen und schließlich die Entwicklung der Dissoziation mit ihren Folgen aufzeigt, folgt ein praktischer Teil. Hier werden die institutionellen Hilfen und Kooperationsmöglichkeiten sowie die rechtlichen Grundlagen der Jugendhilfe dargestellt, bevor schließlich in die Praxis der Traumatherapie und Traumapädagogik eingestiegen wird. Diese geht in 3 Schritten vor: Zuerst muss eine äußere Sicherheit hergestellt werden, etwa die Trennung vom Täter, bevor in einem zweiten Schritt die innere Sicherheit wiederhergestellt werden kann. Erst in einem dritten Schritt kann die eigentliche Traumaintegration beginnen, die als Methode der Integration traumaassoziierter Selbstanteile beschrieben und in Fallvignetten illustriert wird.

Das Ziel ist, dass das Kind sein Gewordensein verstehen und annehmen kann, sich selbstregulieren und seine eigenen Bedürfnisse wahrnehmen kann. Es kann seinem Leben einen Sinn geben und seinen Platz im Leben finden. Der Wunsch, sich weiterhin zu schützen und die Selbstfürsorge darf es nicht vernachlässigen.

Auf dem Hintergrund der nachgewiesenen generationsübergreifenden Weitergabe von Entwicklungstraumatisierungen, in dem Eltern ihre eigenen traumatischen Erfahrungen mit all ihren Folgen an die Kinder weitergeben, ist ein Versuch, diesen Teufelskreis zu durchbrechen – ein höchst lohnender, wenn er denn erkannt wird.

Denn die Symptome sind oft so unspezifisch, dass sie nicht als Anpassungsleistung verstanden werden, etwa aggressives Verhalten, Affektdurchbrüche, Konzentrationsstörungen, Angststörungen, ADHS, Schlafstörungen, Risikoverhalten, oppositionelles Verhalten bis zu Delinquenz, Substanzmissbrauch, Depression, körperliche Erkrankungen und unklare Schmerzsyndrome. Uns allen sind sie, samt ihren mehr oder weniger frustranen Behandlungsmöglichkeiten, aus unseren Praxen gut bekannt. Die neue Diagnose Entwicklungstrauma hilft, die vielfältige klinische Symptomatik zu deuten, die Kinder und Jugendliche zeigen können, wenn sie solchen "chronischen interpersonellen Traumen" ausgesetzt sind.

Aus diesem Grunde ist jedem Pädiater, der einen sozialpädiatrischen Ansatz verfolgt und dem es nicht nur um die Behandlung kruder Pathologien geht, die Lektüre dieses Buches ans Herz zu legen.

Dr. Stephan Heinrich Nolte, Marburg


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (2) Seite 136