Mit dem Appell „Exklusion beenden" wenden sich zahlreiche Organisationen an die Bundes- und Landesministerien. Zentrales Anliegen ist die Gestaltung eines inklusiven Kinder- und Jugendhilferechts für alle Kinder und Jugendlichen. Auch die DGSPJ gehört zu den Unterzeichnenden.

Deutschland feiert aktuell das 10-jährige Jubiläum des Inkrafttretens der menschenrechtlichen Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention. Wie viel Grund zu feiern es gibt, variiert nach Lebensbereichen wie auch jeweiliger Perspektive. Mit der Reform durch das Bundesteilhabegesetz in der letzten Legislaturperiode wollte der Gesetzgeber die Rechte von Menschen mit Behinderungen weiter stärken. Aus diesem Prozess ausdrücklich ausgenommen war die Hilfeperspektive von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Die Aufhebung der in Deutschland nach wie vor bestehenden und seit Jahrzehnten kritisierten Aufteilung von Kindern und Jugendlichen in unterschiedliche Zuständigkeiten je nach Behinderungsform sollte einem eigenen Reformprozess vorbehalten bleiben. Dieser blieb aus und ist überfällig.

Denn Deutschland unterscheidet auch im Jahr 2019 trotz UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) und Grundrecht auf Gleichbehandlung immer noch künstlich zwischen "Jugendhilfe"-Kindern und "Eingliederungshilfe"-Kindern. Junge Menschen ohne Beeinträchtigungen oder mit einer seelischen Behinderung unterfallen dem Hilfesystem des SGB VIII und damit der Zuständigkeit des Jugendamts, junge Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen hingegen in das Hilfesystem des SGB XII und damit der Zuständigkeit der Eingliederungshilfe. Aufgrund der hierdurch entstehenden Zuständigkeitsstreitigkeiten werden viele Kinder, Jugendliche und Familien nicht nur zwischen den Behörden hin und her geschoben, erhalten keine, verspätet oder nur unzureichend Hilfen. Die rechtlich gezogenen Trennlinien sind zudem mit einer ganzheitlichen Wahrnehmung von Menschen nicht vereinbar. So ist zum Beispiel in jeder Hinsicht inakzeptabel, dass das Sozialrecht den jeweiligen IQ-Wert von Kindern und Jugendlichen zum prägenden Merkmal erhebt, weil sich danach die behördliche Zuständigkeit entscheidet. Bei einem Wert von 69 und darunter ist die Eingliederungshilfe, bei einem Wert von 70 und darüber die Kinder- und Jugendhilfe zuständig.

Eine Zuordnung ins jeweilige System hat erhebliche Auswirkungen.

Vier lebensnahe Beispiele zur Veranschaulichung

JONAS ist schwerst mehrfachbehindert zur Welt gekommen. Seitdem kümmern sich seine Eltern abwechselnd um seine Versorgung und Betreuung, und werden dabei von einem ambulanten Pflegedienst unterstützt. Als Ben – Jonas‘ 3 Jahre älterer Bruder – zunehmend aggressiver wird, spüren die Eltern, dass sie als Eltern dringend familienentlastender Unterstützung bedürfen, auch um sich Bens Bedürfnissen wieder stärker widmen zu können. Der von ihnen um Hilfe ersuchte Träger der Eingliederungshilfe weist jedoch dieses Begehren mit der Begründung zurück, er sei ausschließlich für die aus der Behinderung von Jonas resultierenden Bedarfe zuständig. Für alles andere müssten sie sich an das Jugendamt wenden.

LINA ist mit einem fetalen Alkoholsyndrom (FASD) geboren, weil ihre Mutter während der Schwangerschaft getrunken hat. Das Jugendamt hat sie in einer Pflegefamilie untergebracht. Lina war von Anfang an entwicklungsverzögert, inzwischen zeigen sich jedoch deutliche Lernschwierigkeiten. Eine IQ-Testung im Alter von 5 Jahren ergab einen Wert von 73. Als sich bei einer erneuten Testung mit 7 Jahren ein IQ-Wert von 68 ergibt, gibt das Jugendamt die Zuständigkeit an den Träger der Eingliederungshilfe ab. Dieser reduziert nicht nur die finanziellen Unterstützungen für Linas Pflegeeltern, sondern verweigert auch die Weiterleistung des bis dahin die Pflegefamilie begleitenden Fachdienstes. Linas Pflegeeltern sind verzweifelt und wissen nicht weiter.

PAULA und FELIX sind Zwillinge (8 Jahre), Paula ist Autistin, Felix hat eine Spastik. Sie gehen gemeinsam in eine integrative Schule. Mit ihren Freunden wollen sie auch zusammen den Hort besuchen, der jedoch voraussetzt, dass beide durch entsprechende Integrationshilfen unterstützt werden. Für Paula wird diese seitens des Jugendamts bewilligt. Der für Felix zuständige Träger der Eingliederungshilfe prüft jedoch zunächst die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern und lehnt daraufhin eine Kostenübernahme für die Integrationshilfe für Felix ab. Die Eltern verstehen die Welt nicht mehr und überlegen, wie sie jetzt mit dieser Ungleichbehandlung ihrer beiden Kinder weiter umgehen sollen.

ANNA, 4 Jahre, ist hörbehindert. Im Rahmen der Frühförderung lernt sie die Gebärdensprache. Damit sie diese auch Zuhause sprechen können, beantragen ihre Eltern die Finanzierung eines Gebärdensprachkurses für die ganze Familie. Der Träger der Eingliederungshilfe lehnt diesen jedoch ab, denn er dürfe nur Leistungen für Anna selbst gewähren.

Die Ungleichbehandlung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien ist nach 10 Jahren UN-BRK ein nicht mehr zu rechtfertigender Zustand. Deshalb haben Politik und Fachwelt die Reforminitiative der letzten Legislaturperiode genutzt, sich innerhalb sowie zwischen den beiden Hilfesystemen von Jugend- und Behindertenhilfe in grundsätzlichen Fragen zu verständigen. Der im Koalitionsvertrag angelegte und vom BMFSFJ aktuell umgesetzte Weg eines breit angelegten Beteiligungsprozesses knüpft hieran an. Nach diesem Diskussionsprozess "Mitreden – Mitgestalten" sind der Bund und die Länder gefordert, die Inklusive Lösung umzusetzen, durch die alle Kinder und Jugendlichen – mit und ohne Behinderungen bzw. unabhängig von der Art ihrer Behinderung – eine einheitliche gesetzliche Grundlage im Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII) finden.

Es ist an der Zeit, dass sich alle einen Ruck geben! Der fachliche Diskurs ist so weit, dass die offenen Fragen gesetzgeberisch beantwortet werden können. Die organisatorischen Herausforderungen sind nicht banal und benötigen Aufmerksamkeit, sind aber gestaltbar. Die finanziellen Auswirkungen der Umsetzung eines inklusiven SGB VIII für die Länder und Kommunen verdienen Beachtung und entsprechende Unterstützung durch den Bund.

Für uns, die Unterzeichnenden (unter anderem auch die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin DGSPJ), ist die Gestaltung eines inklusiven Kinder- und Jugendhilferechts für alle Kinder und Jugendliche das zentrale Anliegen. Die Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Politik steht jenseits von Parteien und föderalen Ebenen in der Pflicht, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen und den Kindern, Jugendlichen und ihren Familien eine gleichberechtigte Teilhabe an den Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe zu ermöglichen. Eine Reform des Kinder- und Jugendhilferechts kann nur dann als gelungen bezeichnet werden, wenn die Exklusion von jungen Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen beendet und die Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen gesetzlich gestaltet wird.

In diesem Sinne werden wir mit unserer Forderung nicht eher nachlassen, bevor die seit über 25 Jahren geführte gesellschafts- und fachpolitische Diskussion zu ihrem Erfolg findet!


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2019; 90 (6) Seite 447-447