Im Oktober 2023 fand der 22. Europäische Gesundheitskongress in München statt. Kann die Erwachsenenmedizin von der Pädiatrie profitieren? Ein Bericht von DGSPJ-Präsidentin Prof. Heidrun Thaiss.
Beim Europäischen Gesundheitskongress in München trafen sich am 26. und 27. Oktober 2023 zum 22. Mal Entscheider und Entscheiderinnen des Gesundheitswesens aus Politik, Selbstverwaltung, Krankenhauskonzernen, Pharmaindustrie sowie Expertinnen und Experten aus Medizin, Pharmazie und Pflege. Unter dem Motto "SOS: Rettung für das überforderte Gesundheitswesen – Wer kommt zur Hilfe?" wurden in Plenarveranstaltungen und weiteren Sessions Möglichkeiten des Systemwandels und dessen Finanzierung, auch mit Vertreterinnen und Vertretern aus Österreich und der Schweiz diskutiert.
Erstmals war auch die Pädiatrie mit einem eigenen Symposium dabei. Hochrangige Vertreterinnen und Vertreter aus der klinischen und ambulanten Versorgung von Kindern und Jugendlichen national und von vor Ort stellten in Impulsvorträgen die aus ihrer jeweils eigenen Perspektive möglichen Optionen dar, die ggf. der Erwachsenenmedizin Vorbild sein könnten.
Prof. Jörg Dötsch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin DGKJ und Direktor der Kölner Universitätskinderklinik machte mit einem Modell der familienzentrierten Versorgung den Auftakt. Er stellte das Zentrum für Familiengesundheit Köln und damit einen systemischen Ansatz vor, der von den Bedürfnissen der Familie, auch jenseits der rein medizinischen Versorgung her interdisziplinär denkt und mit strategischen Partnerschaften und einem Lotsenkonzept und Überleitungsstrukturen diese Bedarfe interdisziplinär zu erfüllen versucht, samt wissenschaftlicher Evaluation und Kooperation mit den Kostenträgern.
Beim Europäischen Gesundheitskongress in München, v.l.n.r: Prof. Klein, Dr. Hubmann, Prof. Thaiss, Prof. Mall, Prof. Hauer, Prof. Dötsch, Fr. Pätzmann-Sietas.
Prof. Julia Hauer, Direktorin der Uni-Kinderklinik Schwabing der TU München, zeigte den hohen technischen Aufwand, die hochspezialisierte Diagnostik und longitudinale Therapie am Beispiel der Kinderonkologie auf. Sie machte an Beispielen wie Leukämieerkrankungen oder Diabetes Typ 1 deutlich, wie durch präzisierte Diagnostik-, Therapie-, Förder- und Präventionsprogramme für chronisch kranke Kinder durch Zentralisierung von Fachexpertise in einem "Krankenhaus im Krankenhaus" von der Schwangerschaft bis zum Übergang ins Erwachsenenalter (Transition) negative Auswirkungen für die Betroffenen, aber auch für das Gesundheitswesen vermieden werden können.
Prof. Christoph Klein, Direktor der Universitätskinderklinik der LMU am Haunerschen Kinderspital, stellte die Forschung mit und für Kinder in den Kontext des Grundgesetzes. Er betonte die Bedeutung der pädiatrischen Forschung auf Medizin und Wissenschaft am Beispiel zahlreicher Pioniere und stellte die Breite pädiatrischer spezialisierter Forschung am Haunerschen Kinderspital dar. Die Potenziale präzisierter Diagnostik von der Organ- über die zelluläre Ebene bis zu molekularen Systemen, von zielgenauen Therapien und von Präventionsprogrammen wurden ebenso aufgezeigt wie die entsprechenden Instrumente der Zukunft, Datenintegration und künstliche Intelligenz gleichwie z. B. Stammzelltherapien für Kinder mit seltenen metabolischen Erkrankungen.
Prof. Volker Mall, Direktor der kbo Kinderklinik München und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, definierte das Spektrum der Versorgung in der Sozialpädiatrie ("komplexe chronische Erkrankungen, Entwicklungsrisiken und Teilhabestörungen") in multiprofessionellen Teams unter besonderer Berücksichtigung des sozialen Umfelds am Beispiel von Strukturen und Prozessen eines Sozialpädiatrischen Zentrums. Er skizzierte die Landschaft der SPZ in Deutschland und zeigte anhand der langen Wartezeiten die Problematiken auf. Anhand des Diagnostik- und Therapiealgorithmus unter spezieller Berücksichtigung des mehrdimensionalen Versorgungsbedarfs wurden die Besonderheiten der SPZ deutlich, deren Stärkung im Koalitionsvertrag der Ampelregierung explizit hervorgehoben wird.
Dr. Michael Hubmann, neuer Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte BVKJ, ergänzte die Sicht der ambulanten Versorgung. Er betonte die hohe intrinsische Motivation, das Besondere der trilateralen Kommunikation und die jahrzehntelange sektorenübergreifende Kooperation, beklagte aber auch die Unterfinanzierung, den Personalmangel und die Dokumentations- und Bürokratielast bei gleichbleibender Netto-Arbeitszeit. Und er demonstrierte, dass KI hier keine Lösungen bietet.
Frau Pätzmann-Sietas, Vorstandsmitglied des Berufsverbands der Kinderkrankenpflege Deutschland, rundete die Vorträge mit der Schilderung der unterschiedlichen Aufgabenbereiche ab, in denen pädiatrische Pflegekräfte wirken: von der Prävention über Kuration und Rehabilitation bis zur Palliation und immer mit dem Fokus auf eine gesunde Entwicklung in physischer und psychischer Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen samt Familiengesundheits- und Elternkompetenzförderung, im stationären, teilstationären und ambulanten Bereich. Dabei hob sie die anhand der EACH-Charta für kranke Kinder die Notwendigkeit hoher Spezialisierung und Professionalität sowie die interdisziplinäre Zusammenarbeit in morbiditätsbezogenen, aber auch Fachgesellschafts- und verbandsübergreifenden Netzwerken wie dem Bündnis für Kinder- und Jugendgesundheit hervor. Mit dem Bild "Wir sitzen alle in einem Boot und rudern gemeinsam für das Wohl der Kinder und Jugendlichen" fand die Sitzung einen gelungenen Abschluss.
Fazit
Alle Vortragenden waren sich einig, dass die Erwachsenenmedizin unter anderem von der Vielfalt, der interdisziplinären und multiprofessionellen Zusammenarbeit in hochspezialisierten Zentren, der besonderen Kommunikation und der bedarfsorientierten kontextbezogenen Versorgung und Forschung rund um das gesunde Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen profitieren kann.
Initiiert und moderiert wurde die Sitzung von Prof. Heidrun Thaiss, Präsidentin der DGSPJ.
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2024; 95 (1) Seite 60-61