Neue Herausforderungen in der Unfallprävention im Kindes- und Jugendalter.

Mit dem Funktionsumfang des Smartphones steigt auch die Ablenkungsvielfalt. Das Mobiltelefon ist zum absoluten Alleskönner geworden und deshalb bei vielen im Dauereinsatz. Wir nutzen es zum Kommunizieren, Informieren, als Wegweiser in unbekannten Straßen, es unterhält uns auf unseren Arbeits- und Schulwegen.

Doch vor allem im Straßenverkehr ist die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer unerlässlich, damit jeder sicher an sein Ziel kommt. Ein Blick auf den Bildschirm zum falschen Zeitpunkt und das Smartphone wird zur echten Gefahr. Eine Gefahr, die auch Kinder und Jugendliche nicht immer richtig einschätzen können.

Die Verbreitung von Handys und Smartphones unter Kindern und Jugendlichen steigt stetig an und eine sichtbare Zunahme der Nutzung von Smartphones im öffentlichen Raum ist zu verzeichnen [1 – 3]. Darüber hinaus häufen sich Berichte von Unfällen aufgrund der Ablenkung durch Mobiltelefone [4, 5]. Deutlich zeigt sich hier ein dringender Handlungsbedarf für gezielte präventive Maßnahmen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Mehr Sicherheit für Kinder e. V. setzt deshalb seit 2019, gefördert vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV), die bundesweite Kampagne "ECHT JETZT?!" um. Der Titel "ECHT JETZT?!" ist gleichzeitig Frage und Appell. Muss das gefährliche Verhalten echt "jetzt" stattfinden und kann das gefährliche Verhalten jetzt "echte" Folgen haben.

Mit dem geförderten Projekt verfolgt die BAG das Ziel, Kinder und Jugendliche vor Smartphone-bedingten Unfällen zu bewahren und zur Verbesserung der Verkehrssicherheit beizutragen. Das Projekt richtet sich schwerpunktmäßig an Kinder ab einem Alter von etwa 10 Jahren, da in diesem Alter die Smartphone-Nutzung stark zunimmt.

Methodik der Entwicklung der Kampagne – Partizipation der jugendlichen Zielgruppe

Damit das Konzept und die Medien die Zielgruppe inhaltlich ansprechen und erreichen, ist es notwendig, detaillierte Informationen zu den Erfahrungen, Sichtweisen und Perspektiven der Jugendlichen zu gewinnen. Bei der Projektentwicklung ist deshalb ein partizipativer Ansatz gewählt worden und es wurden sowohl eine Repräsentativbefragung als auch Gruppendiskussionen mit der jugendlichen Zielgruppe umgesetzt. Die Ergebnisse dieser Analysen flossen anschließend in die Ausgestaltung der Kampagnenkonzeption und der dazugehörigen Medien mit ein.

Für die repräsentative Umfrage befragte die BAG 1.011 Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren online über ein Jugendpanel. Die Ergebnisse zeigten, dass mit 44 % (441 Jugendliche) fast die Hälfte der Teenager schon einmal einen "Beinahe-Unfall" aufgrund einer Ablenkung durch das Smartphone erlebt hat. 17 % waren zum Befragungszeitpunkt sogar bereits mehr als einmal in eine brenzlige Situation geraten. 6 % der Jugendlichen gaben an, dass ihnen selbst schon einmal ein Unfall mit dem Smartphone passiert sei. 18 % hatten einen Unfall schon einmal beobachtet, 17 % hatten über Familie oder Freunde davon gehört.

Die häufigsten Smartphone-bedingten "Beinahe-Unfälle" ereigneten sich der Umfrage zufolge mit 45 % auf der Straße, gefolgt vom Bürgersteig mit knapp einem Drittel der "Beinahe-Unfälle" (Abb. 1).

Die mit Abstand häufigste Art der Ablenkung, die fast zu einem Unfall geführt hätte, war mit 64 % das Lesen von Chats. Das Hören von Musik mit Kopfhörern kam mit 29 % auf Platz 2 (Abb. 2).

In der Umfrage wurde auch das elterliche Verhalten thematisiert. Hierzu gab etwa ein Drittel der Jugendlichen an, dass ihre Eltern zumindest hin und wieder keine Vorbilder in Sachen Smartphone-Nutzung seien: Sie verhielten sich manchmal unvernünftig und nicht verantwortungsbewusst, und das nicht nur in Bezug auf die Dauer der Smartphone-Nutzung, sondern auch, wenn es um den Gebrauch in unfallkritischen (Verkehrs-)Situationen gehe.

In den qualitativen Gruppendiskussionen wurde auch die Bedeutung elterlicher Vorbilder von den Jugendlichen betont: Eltern spielen demnach als Vorbilder eine wichtige Rolle. Dies gilt vor allem für jüngere Jugendliche und Kinder, die das Verhalten ihrer Eltern häufig nachahmen.

Printmaterialien zum Thema für Kinderarztpraxen

Im Sinne der Ansprache zum Thema wurde für die Zielgruppe der Eltern ein Printprodukt entwickelt. Es wurde ein Informationsflyer gestaltet, der Eltern für das Thema und deren Vorbildrolle für ihre Kinder sensibilisiert (Abb. 3). Die Jugendlichen sollen durch positives elterliches Vorbildverhalten mittelbar erreicht werden.

Kinderarztpraxen können diesen Flyer kostenfrei bei der BAG bestellen und beispielsweise im Wartebereich für Eltern auslegen oder im persönlichen Elterngespräch weitergeben.

Darüber hinaus wurde ein Wimmelbild im DIN-A4-Format aufgelegt (Abb. 4). Auf dem Wimmelbild ist eine Straßenverkehrsszenerie abgebildet, in der 10 Unfallrisiken aufgrund der Ablenkung durch Smartphones entdeckt und eingekreist werden können. Das Material eignet sich für die spielerische Ansprache von Kindern ab dem Grundschulalter. Auch die Wimmelbilder können als Blöcke mit jeweils 25 abreißbaren Seiten bei der BAG kostenfrei bestellt werden.

Weitere Kampagnenkommunikation: Schulmaterialien und Social Media

Neben den Printmaterialien zur Ansprache der Eltern und von Kindern wurde eine Gesamtkampagnenkonzeption entwickelt, welche auch die Kernzielgruppe der Jugendlichen über Social-Media-Aktivitäten und schulbezogene Materialien erreicht. Entsprechend der Empfehlungen aus den Gruppendiskussionen wurden Social-Media-Kanäle wie Instagram, Spotify und YouTube bespielt.

Ein weiteres Ziel der Kampagne ist die Förderung der Auseinandersetzung mit dem Thema an Schulen. Die Idee, Unterrichtsmaterial für die Mobilitäts- und Verkehrserziehung zu entwickeln, wurde mit zahlreichen Expertinnen und Experten für Verkehrs- und Mobilitätserziehung diskutiert. Es gab durchweg eine positive Resonanz.

Neben der Elternansprache und Social-Media-Kommunikation mit der Zielgruppe der Jugendlichen wurde daraus folgend auch das Setting Schule in den programmatischen Ansatz der Kampagne einbezogen. Auf Basis ausführlicher Vorarbeiten und Recherchen wurde ein entsprechendes Lehrmaterial mit begleitenden Hintergrundinformationen für die Jahrgangsstufe 4 erarbeitet. Diese Altersklasse wurde zum einen ausgewählt, da die Smartphone-Nutzung bereits ab Ende der Grundschulzeit bei den Kindern zunimmt. Zum anderen werden in den Jahrgangsstufen 3 bzw. 4 auch die Radfahrausbildung und die Fahrradprüfung durchgeführt, was einen passenden Anknüpfungspunkt für das Thema Ablenkung durch die Smartphone-Nutzung im Straßenverkehr bietet. Im Rahmen des Entwicklungsprozesses wurden in Zusammenarbeit mit einem Meinungsforschungsinstitut zwei Gruppendiskussionen mit je 7 Fach- und Lehrkräften zur inhaltlichen Aufbereitung und Gestaltung der schulischen Materialien durchgeführt. Deren Rückmeldungen flossen in die endgültige Ausarbeitung der Materialien ebenso ein wie das fachliche Feedback weiterer Verkehrssicherheitsexperten und des BMDV. Die Materialien lassen sich inhaltlich untergliedern in Hintergrundinformationen zum Thema, methodisch-didaktische Anregungen zur Einbindung der Materialien und Umsetzung der Impulse im Unterricht, den Unterrichtsimpulsen selbst (11 Arbeitsaufgaben) inklusive 3 Arbeitsblätter und einen Wissens-Check zur Überprüfung des Erlernten einschließlich Lösungsblatt (Abb. 5). Zur Distribution des entwickelten Lehrmaterials werden in diesem Jahr vielfältige Kanäle wie Lehrkräfteportale und -zeitschriften genutzt.

Zukünftig wird die BAG dabei die Strategie noch deutlicher als bisher darauf ausrichten, die zentralen Unfallrisiken, die durch Ablenkung mit Smartphones entstehen, "erfahrbar zu machen". Dies soll durch die Konzeptentwicklung, Umsetzung und Bekanntmachung von 360-Grad-Filmen ermöglicht werden. In insgesamt 3 bis 4 Filmen von ca. 45 Sekunden sollen die zentralen Unfallgefahren (z. B. Smartphone-Nutzung beim Fahrradfahren, beim Einsteigen in eine Straßenbahn oder beim Überqueren einer Straße) dargestellt werden. Gedreht wird hierbei aus einer Bodycam-Perspektive. Durch die Perspektive wird der Zuschauer selbst zum Akteur, der sich in der riskanten Situation wiederfindet. Die Clips sollen breit via Social-Media-Kanäle gestreut werden und so die Zielgruppe erreichen. Die ersten Filme werden voraussichtlich Ende 2022 veröffentlicht.

Weitere Informationen zur gesamten Kampagne und den erstellten Medien finden Sie unter:

Literatur
1. Feierabend S, Plankenhorn T. Rathgeb T (2015) KIM-Studie 2014 Kinder + Medien Computer + Internet. Basisuntersuchung zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger in Deutschland (2015). Zugriff unter https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/KIM/2014/KIM_Studie_2014.pdf.
2. Feierabend S, Plankenhorn T, Rathgeb T (2017) KIM-Studie 2016 Kindheit, Internet, Medien. Basisstudie zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger in Deutschland (2017). Zugriff unter https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/KIM/2016/KIM_2016_Web-PDF.pdf
4. Wagner R, Gosemann JH, Sorge I, Hubertus J, Lacher M et al. (2019) Smartphone-Related Accidents in Children and Adolescents. A Novel Mechanism of Injury (2019). Pediatric Emergency Care 10.1097/PEC.0000000000001781.
5. Bünte O (2018) Unfallexperten weisen auf Gefährdung von Smartphone-Zombies hin (2018). Zugriff unter .


Korrespondenzadressen
Andreas Kalbitz
Bundesarbeitsgemeinschaft Mehr Sicherheit für Kinder e. V.
Christian-Lassen-Straße 11a
53117 Bonn

Dr. Gabriele Ellsäßer
Grolmanstraße 21
10623 Berlin

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (3) Seite 222-224