Bei der zweiten gemeinsamen Tagung des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) und der Bundesarbeitsgemeinschaft Gesundheit & Frühe Hilfen (BAG GfH) stand ein Dauerbrenner im Fokus: die immer noch wachsende relative Armut von Kindern und ihren Familien in Deutschland. Doch was kann man dagegen tun?
Wichtig ist zunächst einmal eine bessere Vernetzung des Gesundheitswesens mit seinen verschiedenen Sektoren und Leistungsbereichen sowie den Frühen Hilfen, die ihre Verortung in der Jugendhilfe haben. Durch unermüdliche Vorarbeit insbesondere von Sönke Siefert, des Vorsitzenden der BAG Gesundheit & Frühe Hilfen und Mechthild Paul, der Leiterin des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen, ist es gelungen, wiederum Vertreter des Bundesministeriums für Gesundheit und des Bundesfamilienministeriums zu gewinnen, die Tagung finanziell zu unterstützen und gemeinsam mit Grußworten und Impulsstatements zu unterstützen. Die thematische Schwerpunktlegung hatte auch mit der hohen Priorität der Bekämpfung der Kinderarmut für die Bundesministerin für Familie/Senioren/Frauen und Jugend, Dr. Franziska Giffey, zu tun. Sie hat es aus mehr als 100 kleineren und größeren Projekten in ihrem Ministerium als prioritäres Projekt ausgewählt, berichtete Juliane Seifert, Staatssekretärin im Bundesfamilienministerium. Die Ministerin setzte sich ein für Chancengleichheit von Anfang an und wird in dem aktuellen Newsletter Frühe Hilfen zitiert: "Ich möchte, dass alle Kinder gleiche Möglichkeiten haben, ihren Weg zu gehen, egal, ob sie aus einer reichen oder armen Familie geboren sind, egal, wo die Wiege ihrer Eltern stand. Die Frühen Hilfen leisten einen wertvollen Beitrag für eine bessere Chancengleichheit, damit es jedes Kind packt." Manchen Teilnehmern ging dieser programmatische Titel nicht weit genug, weil eine wirksame Armutsbekämpfung darin nicht angelegt ist. Aber dennoch – die Fachkräfte der Frühen Hilfen können nicht warten, bis hier substanzielle Verbesserungen auf Bevölkerungsniveau erreicht sind. Die Eltern und Kinder sind jetzt da und brauchen unsere Unterstützung. Wie können sie also gestärkt werden, mit Armutsverhältnissen zurechtzukommen und wie können wir ihnen helfen, Wege aus der Armut zu finden?
Kinder in ihrer Lebenswelt erreichen
Auch Dr. Heidrun Thaiss, Leiterin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, führte den 180 Teilnehmern die Fakten noch einmal vor Augen: "Armut hat häufig gravierende Folgen für die Entwicklung von Kindern. Anhaltende Auswirkungen zeigen sich insbesondere in einem schlechteren Gesundheitszustand und stark eingeschränkten Teilhabe- und Entwicklungsmöglichkeiten dieser Kinder. Kinderarmut ist ein sehr komplexes Problem, dass sich nicht mit einfachen Lösungen beheben lässt. Ein besonders hohes Armutsrisiko tragen Kinder von alleinerziehenden Müttern, Eltern in Langzeitarbeitslosigkeit, Familien mit Migrationshintergrund sowie Familien mit mehr als drei Kindern. Um die Lebenslage von Familien in Armut zu verbessern, ist es entscheidend, dass wir sie in ihrer Lebenswelt erreichen und ihr gesamtes Umfeld mit einbeziehen. Daher ist die Vernetzung derjenigen Akteure wichtig, die auf den unterschiedlichen Entscheidungsebenen Einfluss darauf haben. Die Beteiligung der Familien ist dabei zwingend erforderlich."
Deutlich wurde, dass es in Deutschland in den letzten 10 Jahren nicht gelungen ist, die Kinderarmut und Bildungsbenachteiligung der Kinder effektiv zu bekämpfen.
Verdeckte Armut wird stark unterschätzt
Sabine Walper, Forschungsdirektorin des Deutschen Jugendinstituts (DJI), führte in ihrem Impulsvortrag aus, dass es neben der bekannten bekämpften Armut der Menschen, die von Hartz-IV-Bezügen leben, noch eine große Anzahl von Familien gibt, die in verdeckter Armut leben. Neben den 2,5 Millionen Kindern, die aktuell unter der Armutsgrenze leben, beträfe dies 850.000 Kinder, die von Einkommensarmut betroffen sind. Damit ist gemeint, dass diese Familien von weniger als 50 % des durchschnittlichen Einkommens leben müssen. Angesichts der Mietsteigerungen in deutschen Großstädten bleibe hier auch kaum etwas zum Leben übrig. Diese Familien "rackern sich ab, und trotzdem reicht es nicht". In beiden Gruppen sind alleinerziehende Eltern, in der Regel Mütter, besonders betroffen. Hier liegen nach neuesten Ergebnissen des Armuts- und Reichtum-Berichtes der Bundesregierung gut 40 % mit ihren Kindern unterhalb der Armutsgrenze. Dies wirke sich auch auf die Zukunftswünsche der betroffenen Kinder selbst aus: Während Kinder aus Familien ohne Armutsrisiko zu 51 % später einmal das Gymnasium besuchen möchten, sagten das nur 29 % der Grundschüler aus Familien mit Armutsrisiko. In der erstgenannten Gruppe berichteten 95 % der Kinder über eine Mitgliedschaft in einem Verein, in der zweiten Gruppe waren es nur 50 %.
Soziale Benachteiligung ist assoziiert mit Gesundheitsrisiken in der frühen Kindheit, z. B. Frühgeburtlichkeit, Entwicklungsstörung oder -verzögerung – diese wirken sich nachhaltig auf die körperliche und seelische Gesundheit im Jugendalter aus. In die Abwärtsspirale eines schlechteren Wohlbefindens wird "schnell eingestiegen und schwer wieder ausgestiegen", auch wenn keine deprivierenden Lebensverhältnisse mehr bestehen.
Armut ist nicht die direkte Ursache von schlechtem Wohlbefinden oder dem erhöhten Risiko für Gewalterfahrung als Täter und Opfer. Die Armutserfahrungen werden vermittelt durch das Familienklima und das Entstehen einer inneren "Wut", die mit vermehrter Exklusivität und Impulsivität einhergehe.
Bei Prävention noch Luft nach oben ...
Thomas Lampert, Fachbereichsleiter Soziale Determinanten der Gesundheit am Robert Koch-Institut (RKI) hielt einen Impulsvortrag zu "Perspektive Gesundheit – unmittelbare und langfristige Auswirkungen von Kinderarmut". Er wies darauf hin, dass die Kindergesundheit sich insgesamt nach Daten der KiGGS-Studie positiv entwickelt. Die psychischen Auffälligkeiten seinen insgesamt von 19 % auf 16 % zurückgegangen, dies sei insbesondere durch einer Verbesserung der Lage bei benachteiligten Gruppen erreicht worden. Auch beispielsweise das Rauchen sei deutlich von 25 % auf 8 % bei den 10- bis 16-Jährigen zurückgegangen. Allerdings sind diese positiven Trends nicht bei allen Aspekten der Gesundheit zu beobachten. Leider ist das Übergewicht in den Gruppen von Kindern und Jugendlichen mit niedrigem Sozialstatus weiter angestiegen, hier hat sich die Ungleichheit zwischen benachteiligten und weniger benachteiligten Bevölkerungsgruppen weiter vergrößert. Er forderte, dass die Präventionspotenziale mit Unterstützungspotenzialen Hand in Hand gehen müssen und massive Anstrengungen unternommen werden müssen, wirksame und nachhaltige Präventionsprogramme weiter auf den Weg zu bringen.
Neu in der "Familie der Frühen Hilfen" war ein Vertreter der gesetzlichen Krankenkasse. Mit Spannung und Freude wurde der Impulsvortrag von Matthias Mohrmann, Mitglied des Vorstandes der AOK Rheinland/Hamburg, zum Thema "Zusammenhänge von Armut und Gesundheit aus Sicht einer großen gesetzlichen Krankenkasse" erwartet. Herr Mohrmann stellte überzeugend dar, dass insbesondere bei den allgemeinen Ortskrankenkassen das Solidarprinzip groß geschrieben werde, die Kassen "stehen damit ohnehin an der Seite der Schwächeren".
Auch hier ist ein differenzierter Blick auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und Gesundheitsbefinden nötig. Sozial benachteiligte Eltern oder solche mit Migrationshintergrund nehmen die Früherkennungsuntersuchungen oder die Impfungen zwar nicht deutlich seltener in Anspruch, aber häufig deutlich verspätet. Am Beispiel der ersten Masern/Mumps/Röteln-Impfung kann dies anhand von Krankenkassen deutlich gezeigt werden. Die zeitgerechte Inanspruchnahme ist hier deutlich seltener und deshalb fehlt auch oft die zweite Masern/ Mumps/Röteln-Impfung. Ähnliches gilt für einen ausgesprochenen sozialen Gradienten bei der Inanspruchnahme von Hebammen-Leistungen. Werdende Eltern, die es nicht schaffen, sich bereits frühzeitig in der Schwangerschaft um Hebammen-Leistungen zu bemühen, müssen sehr häufig nach der Geburt darauf verzichten.
… zum Beispiel mit dem "Gesundheitskiosk"
Matthias Mohrmann stellte ausführlich ein sozialräumliches Gesundheitsförderungsprojekt vor, dass im Rahmen des Innovationsfonds gefördert wird. Dabei geht es um den Stadtteil Billstedt/Horn in Hamburg, in dem in der Fußgängerzone ein "Gesundheitskiosk" eröffnet wurde. Dort finden sich Gesundheitsberater, die in 8 verschiedenen Sprachen kommunizieren können. Sie erläutern medizinische Befunde, helfen bei Überweisungen und Arztterminen und verweisen insbesondere auch auf weitere Angebote zur Beratung und Unterstützung in der Kommune. Die Zuhörer stellten jedenfalls fest, dass ein solches Angebot hervorragend dazu beitragen kann, niedrigschwellig die Frühen Hilfen weiter bei sozial benachteiligten Familien bekannt zu machen.
An einer Podiumsdiskussion nahmen Hermann Kostrewa, Dezernatsleiter für Soziales, Gesundheit, Jugend, Bildung und Kultur aus dem Landkreises Spree-Neiße teil. Wie die Bezeichnung des Dezernats bereits zeige, müsse eine Integration aller Politiken zur Förderung der Gesundheit durch alle Ressorts hindurch geplant werden, wenn sie vernetzt sein soll. Sabine Andresen, die Vizepräsidentin des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB) fand starke Worte auf die Frage, warum es in einem reichen Land bisher nicht möglich gewesen sei, die Kinderarmut effektiv zu bekämpfen: "Es fehlt der politische Wille!". Ebenfalls neu in der großen Familie der Frühen Hilfen war Andreas Staible, von der Bundesagentur für Arbeit, der herzlich willkommen geheißen wurde und sich auch offensichtlich wohlfühlte. Auch er sah die Notwendigkeit, die Beratung der Menschen in Bedarfsgemeinschaften in den Jobcentern weiter zu fördern und sich gut mit anderen zu vernetzen.
Viele Eltern "packen" es einfach nicht
Die Präsidentin der DGSPJ und Berichterstatterin stellte fest, dass alle Impulsvorträge und Diskussionsbeiträge gezeigt haben, dass es an der Zeit ist, den Blick weg zu wenden von individuellen Schuldzuweisungen für das Leben in Armutsverhältnissen. "Natürlich fällt uns oft schnell etwas ein, was diese Familien tun könnten, um ihre Lage zu verbessern: mit dem Rauchen aufhören und damit Geld sparen; Mittel aus dem Bildungspaket beantragen und das Kind in den Sportverein schicken; die Teilnahme bei einem Elterntraining beim Jugendamt beantragen. Ja, das ist schön und gut, aber wir müssen feststellen, dass viele Eltern das nicht "packen" – weil ihnen die Kraft, die Information, die Einsicht oder die Hoffnung fehlt, sich aus der Armutslage zu befreien. Wenden wir unseren Blick von der Verhaltensprävention zur Verhältnisprävention, so müssen wir erkennen, dass die Politik der Frühen Hilfen mit den Kampagnen, Initiativen, Strategien anschlussfähig sein muss, insbesondere zu den Maßnahmen des Präventionsgesetzes. Die Frühen Hilfen müssen ohne Widersprüche überführbar sein in die Gesundheitsförderungen in Kindertagesstätten und anderen sozialen Kontexten. Für viele Familien muss nicht nur eine einfache Naht, sondern auch ein doppelter Saum genäht werden."
Die niedergelassene Kinder- und Jugendärztin Petra Kapaun aus Hamburg schilderte an zwei eindrucksvollen Fallbeispielen, welchen Unterschied es macht, ob Netzwerke von Anfang an verbindlich geknüpft werden, transparent für die Familien sind, diese an den Plänen teilhaben lassen und vor allen Dingen freundlich auftreten. Der Erfolg werde dann deutlich in einem Wartezimmergespräch: "Du, geh mal zu Frau Dr. Kapaun, die war immer gut zu mir."
In einem anderen Fall waren sehr viele Hilfen zu einem Thema an die Familie herangetragen worden, die immer wieder frühzeitig beendet und abgebrochen wurden. Diese Familie habe sich darüber beklagt, dass ihnen immer nur Vorwürfe gemacht worden seien.
Jeden Tag das Bestmögliche erreichen
Am Nachmittag wurden fünf unterschiedliche thematische Workshops angeboten, teilweise mit Impulsvorträgen, jeweils aus den Bereichen der sozialen Hilfen und dem Gesundheitswesen. Damit kamen noch mehr Akteure ins Blickfeld, z. B. Hochschulen, die großen Wohlfahrtsverbände, Träger von Fort- und Ausbildungsangeboten, der ÖGD, die Frühförderung und die Fachverbände der Kinder- und Jugendmedizin. In den Plenumsberichten aus diese Arbeitsgruppen wurde deutlich, mit welch großen Schritten ein weiter Weg zwischen der ersten Kooperationstagung, die noch von Wünschen und Zielvorgaben geprägt war, bis zu dieser zweiten Kooperationstagung zurückgelegt worden war, wo bereits gut funktionierende Handlungsfelder beschrieben werden konnten.
Dennoch, die Arbeit wird schwerer, wenn sich nicht bald und nachhaltig etwas an den Lebensverhältnissen benachteiligter Familie ändert. Hier bedarf es großer und gemeinsamer Anstrengungen auch im Sinne der WHO-Strategie Health in All Policies und dem Nurturing Care Framework, dem gemeinsamen Konzept von WHO und UNICEF, das gute Lebensverhältnisse für die Jüngsten der Gesellschaft einfordert. Die Umsetzung solcher Rahmenprogramme und die entsprechenden Politiken brauchen oft viel Zeit. Andererseits muss jeden Tag versucht werden, das Bestmögliche zu erreichen. Die Kinder sind nicht nur die Zukunft, sie sind ganz individuell jetzt schon da.
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2019; 90 (1) Seite 50-52