Studien und Auswertungen von Krankenkassendaten zeigen, dass ADHS-Diagnosen sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen zunehmen. Neue Daten aus England und Deutschland belegen dies eindeutig.
Eine Forschergruppe am University College London hat in einer aktuellen Kohortenstudie anonymisierte Patientendaten ausgewertet, die ihnen aus Allgemeinarztpraxen zur Verfügung gestellt wurden. Aus den vorhandenen Daten wurde die Rate der ADHS-Diagnosen und Verordnungen von Arzneimitteln gegen ADHS in der britischen Primärversorgung im Zeitraum von 2000 bis 2018 bei Patientinnen und Patienten im Alter von 3-99 Jahren berechnet. In die Studie wurden die Daten von mehr als 7,6 Millionen Patienten einbezogen. Bei 36.000 Patienten (0,5 %) wurde die Diagnose ADHS gestellt und bei 18.000 Patienten (0,2 %) wurden Medikamente gegen ADHS verschrieben. Eine ADHS-Diagnose wurde bei Kindern häufiger gestellt als bei Erwachsenen. Bei Männern wurde häufiger ADHS diagnostiziert als bei Frauen und auch die Zahl der Arzneimittelverordnungen lag höher.
Durch die Auswertung der Daten konnten die Forscher berechnen, dass die Inzidenz und die Prävalenz der ADHS-Diagnosen und Verordnungen in allen Altersgruppen signifikant angestiegen waren. Im Jahre 2000 wurde 1,4 Prozent der Jungen im Alter von 10-16 Jahren eine ADHS-Diagnose gestellt. 0,6 Prozent von ihnen wurden ADHS-Medikamente verschrieben, im Jahre 2018 war der Anteil der Diagnosen bereits auf 3,5 Prozent angestiegen und die der Medikamentenverordnungen auf 2,4 Prozent. Bei den erwachsenen Patienten war der relative Anstieg an Diagnosen und Verordnungen am höchsten: Die Zahl der ADHS-Diagnosen stieg bei den 18- bis 29-Jährigen nahezu um das 20-Fache an, die Zahl der Arzneimittelverordnungen wegen ADHS um das 50-Fache. Dieser Trend lässt sich teilweise durch einen Kohorteneffekt erklären. Dieser besagt, dass Kinder mit ADHS in das Erwachsenenalter hineinwachsen und dort dann auch eine erhöhte Rate an Neudiagnosen erfolgt.
Vergleichbare Zahlen liegen aus Deutschland vor. Auch hier sind die ADHS-Raten gestiegen, wie aus einer bundesweiten Auswertung der Krankenkassendaten von 2009-2014 hervorgeht. In diesem Zeitraum stieg die Häufigkeit von ADHS-Diagnosen bei unter 18-Jährigen von 5,0 Prozent auf 6,1 Prozent (mit einem Maximum von 13,9 Prozent bei 9-jährigen Jungen) und bei 18- bis 69-Jährigen von 0,2 Prozent auf 0,4 Prozent an.
Bei erwachsenen ADHS-Patienten nahm die Verordnung von ADHS-Medikamenten zu, bei Kindern und Jugendlichen wurden weniger Verordnungen registriert. Meistverordneter Wirkstoff war Methylphenidat, gefolgt von Atomoxetin und Lisdexamfetamin. In einer Transitionskohorte verringerten sich die ADHS-Diagnosen innerhalb von 6 Jahren von 100 Prozent auf 31,2 Prozent und die Medikationshäufigkeit von 51,8 Prozent auf 6,6 Prozent. Dieser deutliche Rückgang der medikamentösen Therapie der ADHS beim Übergang ins Erwachsenenalter wirft die Frage auf, ob hier nicht mehr spezifische Transitionskonzepte entwickelt werden sollten.
Die in den vergangenen Jahren gestiegene ADHS-Diagnosehäufigkeit bei Erwachsenen kann als Ausdruck einer erhöhten Sensibilisierung von Ärzten und Patienten für die adulte ADHS gewertet werden. Die diagnostizierte Häufigkeit der ADHS bei Erwachsenen liegt jedoch unter der in epidemiologischen Studien ermittelten Prävalenz, was auf einen signifikanten Anteil undiagnostizierter Fälle hindeutet und die Notwendigkeit eines weiteren Ausbaus der Versorgung adulter ADHS-Patienten unterstreicht.
Katharina Maidhof-Schmid