Wie entstehen Schwierigkeiten beim Lesenlernen? Was sind Ursachen und was sind Folgen? Mit diesen Fragen befasst sich Dr. Micheal Skeide und führt dazu neurobiologische Experimente durch. Für seine wissenschaftliche Arbeit zu diesem Thema wurde er mit dem Stefan-Engel-Preis 2020 ausgezeichnet.

Im Folgenden veröffentlichen wir eine ausführliche Version des Beitrags, der anlässlich der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin mit dem Stefan-Engel-Preis 2020 ausgezeichnet wurde. Das Preisgeld in Höhe von 5.000 Euro wurde vom Kirchheim-Verlag in Mainz gestiftet. Als Letztautor und Leiter der Forschungsgruppe war Dr. Michael A. Skeide zusammen mit anderen Autoren (siehe Dank im Anhang) maßgeblich an der Konzeption, der Betreuung des Promotionsprojekts, der Datenerhebung, Datenauswertung sowie der Dateninterpretation und schließlich an der Verfassung dieses Manuskriptes beteiligt.

Worum geht es in meiner Forschung?

Ich befasse mich mit der Frage: Wie entstehen Schwierigkeiten beim Lesenlernen? Meine grundlegende Annahme ist, dass diese Schwierigkeiten auf das wechselseitige Zusammenspiel von genetischen Variationen und Umwelteinflüssen (inkl. sozialen Einflüssen) auf die Gehirn- und Verhaltensentwicklung des Kindes zurückgeführt werden können. Um meine Annahme wissenschaftlich bestätigen und präzisieren zu können, führe ich neurobiologische Experimente durch. Dabei verwende ich strukturelle und funktionelle MRT und kombiniere diese Verfahren mit kognitiven Tests, Fragebögen, Geno-Typisierungen und Umweltmessungen. Meine Zielgruppe sind Kinder ab dem Alter von 3 Jahren, die ich bis ins Schulalter hinein begleite. Einen Einblick in meine Arbeit bietet unsere Website: www.skeidelab.com.

Theorien der Legasthenie

Nur in wenigen klinischen Forschungsbereichen gibt es so viele unterschied­liche Theorien wie in der Legasthenieforschung. Ab dem 19. Jahrhundert nahm man zunächst an, dass Legasthenie eine spezielle Sehstörung („Wortblindheit“) sein könnte [1]. Im 20. Jahrhundert setzte sich dann zunehmend die Auffassung durch, dass Betroffene Probleme mit der Verarbeitung sprachlicher Laute und deren Verknüpfung mit Buchstaben haben [2]. Darüber hinaus tauchen jedoch zahlreiche weitere mögliche Ursachen in der Literatur auf, z. B.: schnelle Reizverarbeitung, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung von Bewegungen, Motorik, (­Arbeits-)Gedächtnis, Sprache, die Automatisierung gelernter Fähigkeiten usw. [3].

Ursachen oder Folgen? Das ­Henne-Ei-Problem

Um sich im Dschungel dieser Theorien nicht zu verirren, sollte man sich zunächst klarmachen, welche der zugrunde liegenden Studien überhaupt Aussagen über mögliche Ursachen zulassen. Dabei fällt auf, dass Studien mit bereits betroffenen Schulkindern und Erwachsenen mögliche Ursachen und Folgen von Legasthenie eigentlich gar nicht voneinander trennen können [4].

Nehmen wir an, eine erwachsene Legasthenikerin unterscheidet sich von einer typischen Leserin in all den oben genannten Bereichen (Aufmerksamkeit, Sprache etc.). Bedeutet das, dass all diese Unterschiede Ursachen ihrer Legasthenie sind? Nicht unbedingt. Schließlich hatte sie kaum eine Chance, sich im Laufe ihres Lebens in vergleichbarer Qualität und Quantität mit Texten zu befassen (Trainingseffekt). Hinzu kommt bei vielen Betroffenen ein ausgeprägtes Lese-Vermeidungsverhalten, das durch negative Erfahrungen im sozialen Lernumfeld begünstigt wird [5].

Frühkindliche Längsschnittstudien

Besondere Bedeutung für die Erforschung der Ursachen von Legasthenie haben deshalb Untersuchungen, in denen Kinder, die noch keinen schriftsprachlichen Unterricht erhalten haben, längsschnittlich bis zur Schulzeit beobachtet werden. Zeigen diese Kinder schon deutlich vor dem Schuleintritt z. B. Probleme mit der Verarbeitung sprachlicher Laute, können diese Probleme wohl kaum auf Trainingseffekte oder Vermeidungsverhalten zurückgeführt werden. Interessanterweise geht aus diesen Untersuchungen bislang hervor, dass nur wenige der oben genannten Theorien tatsächlich als Ursachen der Legasthenie in Frage kommen [6].

Die bisher umfangreichste Längsschnittstudie, das „Dutch Dyslexia Programme“, hat mit Hilfe von Hirnstrommessungen der Hörrinde gezeigt, dass Kinder mit Leseschwierigkeiten in der 2. Klasse bereits als 2 Monate alte Säuglinge Probleme mit der Unterscheidung sprachlicher Laute haben (bak vs. dak) [7]. Dass sich die Hörrinde bei Kindern, die später an einer Legasthenie leiden, auffällig entwickelt, wurde in einer Reihe unabhängiger Untersuchungen bestätigt, zuletzt in einer unserer mit dem Stefan-Engel-Preis ausgezeichneten Arbeiten [6, 8, 9]. Diese Daten aus der neurobiologischen Forschung passen zu der seit den 1970er-Jahren bekannten Beobachtung, dass die „phonologische Bewusstheit“ eines der zuverlässigsten Früherkennungsmerkmale von Leseschwierigkeiten ist [2]. Eine klassische Aufgabe zur phonologischen Bewusstheit wäre z. B. „Sage Ball ohne B“. Hierbei ist zu beachten, dass phonologische Bewusstheit zwar auch höhere sprachliche Verarbeitungsprozesse beinhaltet (z. B. Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprozesse), nicht zuletzt aber ein präzises Hören sprach­licher Laute voraussetzt. Zur Zeit gibt es meines Wissens keine verlässlichen Hinweise dafür, dass allein höhere sprachliche Verarbeitungsprozesse ursächlich mit der Legasthenie zusammenhängen [10].

Neben dem präzisen Hören sprachlicher Laute gibt es aktuell nach meiner Kenntnis nur ein weiteres ähnlich belastbares Früherkennungsmerkmal. Dabei handelt es sich um die ebenfalls seit den 1970er-Jahren bekannte Fähigkeit, visuelle Objekte (z. B. die Abbildung eines Apfels) möglichst schnell mit dem entsprechenden gesprochenen Wort zu verknüpfen [11]. Die dafür nötigen Verarbeitungsressourcen werden u. a. von der Spindelwindung des Gehirns bereitgestellt. In einer unserer weiteren Arbeiten konnten wir einen ersten Hinweis dafür liefern, dass die Spindelwindung von Kindern, die später eine Legasthenie entwickeln, bereits im Alter von 5 Jahren in ihrem Aufbau Unterschiede im Vergleich zu einer Kontrollgruppe aufweist [12]. Dieser Befund wurde kürzlich von einer anderen Arbeitsgruppe bestätigt [13].

Die aktuelle Datenlage stützt aus meiner Sicht die sogenannte „dual deficit ­theory“, die bereits in den frühen 1990er-Jahren formuliert wurde [14]. Ob diese Theorie zu einer „multiple deficit theory“ erweitert werden muss, in der zusätzliche ursächliche Entwicklungspfade zu berücksichtigen sind, bleibt abzuwarten.

Wie spezifisch ist Legasthenie?

Die eben besprochenen Studien könnten nahe­legen, dass Legasthenie durch hoch spezifische Besonderheiten in der frühkindlichen kognitiven Entwicklung gekennzeichnet ist. Von dieser Sichtweise hat sich die Forschung jedoch zunehmend entfernt. Schon im Rahmen des „Dutch ­Dyslexia Programme“ fiel auf, dass die meisten Kinder, die später mit Leseschwierigkeiten zu kämpfen hatten, auch Defizite in der frühen Sprachentwicklung zeigten. Dabei ­wurde u. a. ein verringertes Vokabular und eine verkürzte Satzbildung beobachtet, die vermutlich auf die bereits erwähnten Probleme bei der Verarbeitung sprachlicher Laute zurückzuführen sind [15]. Darüber hinaus ist z. B. das gemeinsame Auftreten von Legasthenie und Dyskalkulie keineswegs eine Ausnahme [16]. Eine unserer Arbeiten deutet darauf hin, dass die Kombination von Legasthenie und Dyskalkulie vielleicht sogar andere Ursachen haben könnte als eine einzeln auftretende Legasthenie [17]. Diese Vermutung muss jedoch erst in längsschnittlichen Untersuchungen bestätigt werden.

Möglichkeiten und Grenzen der Früherkennung

Die mäßige Treffsicherheit von Legasthenie-Screenings, die auf der phonologischen Bewusstheit und der schnellen Bildbenennung basieren, kann durch die Ergänzung mit neurobiologischen Maßen signifikant verbessert werden [6]. Nicht zuletzt aufgrund von Kosten-Nutzen-Abwägungen erscheint die Verwendung von MRT oder Hirnstrommessungen für die Legasthenie-Früherkennung auf absehbare Zeit zumindest in Deutschland jedoch nicht realistisch. In Zukunft könnte sich diese Situation allerdings möglicherweise ändern, falls z. B. ein früher MRT-Scan Aussagen über mehrere Lern- und Entwicklungsstörungen zuließe (z. B. auch ADHS, Sprachentwicklungsstörungen und Störungen im Autismus-Spektrum).

Unabhängig davon ist meiner Ansicht nach zu bedenken, dass die Früherkennung/ -förderung der Legasthenie in vielen Fällen von einer verbesserten Früherkennung/-förderung vorangehender Sprachentwicklungsstörungen profitieren könnte. Meine Erfahrung ist, dass die dafür vorgesehenen Vorsorgeuntersuchungen in der kinderärztlichen Praxis leider häufig zu oberflächlich durchgeführt werden. Ich gehe davon aus, dass deshalb viele Kinder mit einem Risikoprofil unentdeckt bleiben und somit wertvolle Zeit verloren geht, die für die Frühförderung sprachlicher Lautverarbeitungsfähigkeiten genutzt werden könnte. Darüber hinaus wäre es in meinen Augen wünschenswert, die erwähnten legastheniespezifischen Früherkennungsmerkmale spätestens im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung sorgfältig zu überprüfen.

Danksagung
Die Auszeichnung mit dem Stefan-Engel-Preis verdanke ich der großartigen Zusammenarbeit mit einigen brillanten Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern: Dr. Indra Kraft, Margarete Störel, Micha Schwarz, Simone Lehmann, Eva Gödel, Jantje Willems, Doreen Bennemann, Franzi Stock, Maria Wohlfahrt, Micha Vollmann, Prof. Dr. Tanya Evans und Dr. Ulrike Kuhl. Mein Dank gilt außerdem folgenden Mentoren: Prof. Dr. Dr. h.c. Angela D. ­Friederici, Prof. Dr. Rasha Abdel Rahman, Prof. Dr. Falk Huettig, Prof. Dr. Thomas Lachmann und Prof. Dr. Vinod Menon.
Literatur
1. Kussmaul (1877) Die Störungen der Sprache. Vogel, Leipzig
2. Bradley L, Bryant PE (1978) Difficulties in auditory organisation as a possible cause of reading backwardness. Nature 271: 746 – 747
3. Peterson & Pennington (2012) The Lancet https://doi.org/10.1016/S0140-6736(12)60198-6
4. Goswami (2015) Nature Reviews Neuroscience https://doi.org/10.1038/nrn3836
5. Haft et al. (2018) Journal of Abnormal Child Psychology ­https://doi.org/10.1007/s10802-018-0458-y
6. Kuhl et al. (2020) NeuroImage https://doi.org/10.1016/j.neuroimage.2020.116633
7. van Zuijen et al. (2013) Developmental Science https://doi.org/10.1111/desc.12049
8. Maurer et al. (2009) Biological Psychiatry https://doi.org/10.1016/j.biopsych.2009.02.031
9. Clark et al. (2014) Brain https://doi.org/10.1093/brain/awu229
10. Vandermosten et al. (2019) Developmental Science https://doi.org/10.1111/desc.12857
11. Denckla MB, Rudel RG (1976) Naming of object-drawings by dyslexic and other learning disabled children. Brain Lang 3: 1 – 15
12. Skeide et al. (2016) Brain https://doi.org/10.1093/brain/aww153
13. Beelen et al. (2019) Cortex https://doi.org/10.1016/j.cortex.2019.09.010
14. Bowers & Wolf (1993) Reading & Writing 5: 69 – 85
15. van der Leij et al. (2013) Dyslexia https://doi.org/10.1002/dys.1466
16. Landerl et al. (2009) Journal of Experimental Child Psychology https://doi.org/10.1016/j.jecp.2009.03.006
17. Skeide et al. (2018) Developmental Science https://doi.org/10.1111/desc.12680


Korrespondenzadresse
Dr. Michael A. Skeide
Leiter der Forschungsgruppe Frühkindliche Lernentwicklung
Max-Planck-Institut für Kognitions- und ­Neurowissenschaften
Stephanstraße 1A, 04103 Leipzig
Tel.: 03 41/9 94 01 30

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (1) Seite 54-55