Serie über den Zentralen Qualitätsarbeitskreis, Teil 2: Ein Überblick über die Ebenen der Mehrbereichsdiagnostik und mögliche MBS-Formulierungen am Beispiel einer Patientin mit Trisomie 21.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialpädiatrischer Zentren (BAG SPZ) hat seit 1996 die "Mehrdimensionale Bereichsdiagnostik in der Sozialpädiatrie (MBS)" definiert. Sie wurde 2002 in der ersten Fassung des Altöttinger Papiers veröffentlicht und auch bei dessen Überarbeitung 2009 weitergeschrieben [1]. 2015 entstand dazu ein Glossar [2], das dazu beitragen sollte, die Mehrbereichsdiagnostik flächendeckend in allen SPZ und sozialpädiatrischen Kliniken Deutschlands zu etablieren und die Zuordnung der Diagnosen auf den einzelnen Ebenen zu vereinheitlichen. Zugleich ist es auch eine Anregung zur mehrdimensionalen Diagnosestellung in sozialpädiatrisch arbeitenden Praxen.
Ursprünglich ging die Mehrbereichsdiagnostik von 5 Ebenen aus:
E ntwicklung und Intelligenz
K örperlich-neurologischer Befund
P sychischer Befund und Verhalten
S oziale Kontextfaktoren
A bklärung der Ätiologie
Die Einführung der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) der WHO, die 2005 in der deutschsprachigen Übersetzung erschien [3], etabliert mit einem Klassifikationsschema eine gemeinsame Sprache für die Formulierung chronischer Gesundheitsprobleme und/oder Behinderungen. Neben Körperstrukturen und -funktionen klassifiziert die ICF auch Umweltfaktoren sowie Aktivitäten und (soziale) Teilhabe. Bei der Teilhabe geht es darum, zu erfassen, wie ein Mensch trotz einer Erkrankung oder Behinderung in der Lage ist bzw. es ihm ermöglicht wird, an unterschiedlichen Bereichen des Lebens teilzunehmen und einbezogen zu sein. Die ICF ermöglicht somit in Ergänzung zur defizitorientierten ICD-10 neben der Erfassung von Defiziten und Barrieren auch die systematische Recherche nach förderlichen Faktoren und Ressourcen. Die ICF ist damit mehr als eine Klassifikation. Da sie Teilhabe in den Mittelpunkt stellt, schafft sie einen neuen Blick auf (Gesundheits-)Probleme und stellt damit einen Paradigmenwechsel dar.
In der MBS wurde dieser Entwicklung Rechnung getragen, und eine weitere Ebene wurde der Mehrbereichsdiagnostik hinzugefügt:
T eilhabe-Faktoren in Anlehnung an
Kriterien und Terminologie der ICF-CY
Da die ICF-Klassifikation sich in der Vollversion einschließlich Kodierung als "sperrig" im Aufwand erwies und sich deshalb nicht für die tägliche Benutzung in der Sozialpädiatrie zu eignen schien, wurde im bisherigen MBS-Glossar eine freie Formulierung der Teilhabe-Ebene ohne Kodierung empfohlen.
Inzwischen hat sich die gesamte Sozialpädiatrie auf den ICF-Weg gemacht. Vorreiter in der Benutzung der ICF waren die pädiatrischen Rehabilitationskliniken. Viele Frühförderstellen und SPZ sind geschult. Die Benutzung der ICF ist vertrauter und üblicher geworden, und damit stellte sich die Frage, ob sie sich nicht mit der Kodierung nach ICD-10 im MBS verbinden lässt. Mit dieser Grundidee erfolgte im letzten Jahr eine Überarbeitung des MBS-Glossars, die eng mit dem ICF-PART-Child-Projekt unter Leitung von Frau Prof. Heike Philippi abgestimmt wurde, das in Team-Schulungen ICF-Philosophie und -Anwendung vermittelt.
Was ist im MBS-Glossar hinzugekommen?
Die Ebene S wurde erweitert und heißt jetzt
S oziale Begleitumstände und Umweltfaktoren
Hier können die Texte der Codes der ICF-CY zur Klassifikation der Umweltfaktoren verwendet werden. Formuliert werden sollen sowohl förderliche Faktoren/Ressourcen als auch hemmende Faktoren. Die Codes der ICF-CY können eine große Hilfe sein, wenn es darum geht, Umweltfaktoren in ihrer Auswirkung auf ein Kind und seine Familie systematisch zu erfassen. Eine im Glossar aufgeführte Schlüsselwort-Liste (Quelle: ICF-CY Schlüsselwortliste für die Praxis, Kontexte Frankfurt, H. Philippi) führt die wichtigsten Stichworte für den sozialpädiatrischen Bereich tabellarisch auf und ordnet die Z-Ziffern der ICD-10 den ICF-Codes zu.
Verändert wurden im neuen MBS-Glossar vor allem die Empfehlungen für die Erfassung der Teilhabe. Diese Ebene heißt jetzt
T eilhabe – aktuell wesentliche Aspekte
Teilhabe im Sinne der ICF-CY umfasst "Dabei-Sein" und "Einbezogen-Sein" in verschiedenen Lebensbereichen, die in den ICF-Codes abgebildet werden können. Die Verwendung bzw. die Kenntnis der Codes erlauben hier ebenfalls eine Prüfung, ob die Erhebung des Teilhabestatus vollständig erfolgt ist. Die dazugehörigen Schlüsselwörter erleichtern die Orientierung. Formuliert werden sollen sowohl gelingende/umgesetzte Teilhabe als auch Teilhabeeinschränkungen.
Im MBS-Schema für die in der Sozialpädiatrie verwendeten Epikrisen-Vorlagen können die 9 gemäß WHO definierten Teilhabebereiche als Raster benannt werden.- Lernen und Wissensanwendung (Lernen, Anwendung des Erlernten, Denken, Probleme lösen, Entscheidungen treffen)
- Allgemeine Aufgaben und Anforderungen (Ausführung von Einzel- und Mehrfachaufgaben, Routinen, Umgang mit Stress)
- Kommunikation (Verständigung mittels Sprache, Zeichen, Symbolen; Verstehen und Produzieren von Mitteilungen, Konversation, Gebrauch von Kommunikationsgeräten und -techniken)
- Mobilität (Änderung der Körperposition, Lage, eigene Fortbewegung; Bewegung von Gegenständen, Gebrauch von Transportmitteln)
- Selbstversorgung (Reinigung und Pflege des eigenen Körpers, An- und Ausziehen, Essen und Trinken, Sorge für die eigene Gesundheit)
- Häusliches Leben (Handlungen zur Beschaffung von Wohnraum, Lebensmitteln und Kleidung; Übernahme von Haushaltsaufgaben)
- Interpersonelle Beziehungen (elementare und komplexe Interaktionen mit Menschen in sozial angemessener Weise)
- Bedeutende Lebensbereiche (Beteiligung an Bildungs-, Erziehung, Erwerbsangeboten, wirtschaftliche Transaktionen)
- Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben (Handlungen zur Teilnahme am Leben der Gemeinschaft auf familiärer Ebene, im sozialen Nahfeld und in den übergeordneten sozialen Strukturen)
Die für die Patienten wesentlichen Aspekte der Teilhabe können als Ressourcen, Ziele oder Defizite formuliert werden. Eine tabellarische Aufstellung (auch hier mit Zuordnung zu den defizitorientierten Codes der Z-Ziffern nach ICD-10) erleichtert die Orientierung und (wenn gewünscht) die Zuordnung der ICF-Codes.
MBS-Formulierung für das Down-Syndrom
Am Beispiel einer Patientin mit Trisomie 21, leichter Intelligenzminderung und komorbiden körperlichen und psychischen Störungen könnte eine MBS-Formulierung im sozialpädiatrischen Brief so aussehen.
Es ist zu empfehlen, ähnlich wie bei der Zuordnung von Diagnosen zum Schema der ICD-10 auch die mehrdimensionale Verschlüsselung in der MBS im SPZ-Team zu trainieren. Auch die Erfassung von Dimensionen nach der ICF-CY erfordert eine Schulung/Weiterbildung des gesamten SPZ-Teams. Es geht dabei nicht um ein "Durchkodieren" von Patienten, sondern vielmehr um die Erfassung alltagsrelevanter Ressourcen und Hindernisse, die zu Zielen in der Behandlung führen, die für ein Kind/einen Jugendlichen und seine Familie eine Teilhabepräferenz darstellen, d. h. wirklich gemeinsam gewünscht und in Angriff genommen werden können.
Das gesamte Glossar findet sich unter dem Stichwort Qualitätssicherung/Papiere der Qualitätszirkel auf der Seite der DGSPJ [4].
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (6) Seite 446-450