Kinderarzt Heinrich Nolte über die wichtigste und ureigendste Aufgabe der Ärzte, Ängste zu nehmen, zu beruhigen, Sicherheit, Ruhe und Zuversicht zu vermitteln - mit Zitaten von Richard Goldbloom.
Mir fiel jetzt die Autobiographie des berühmten kanadischen Pädiaters Richard B. Goldbloom in die Hände: A lucky life [1]. Ich hatte ihn auf zwei Wegen kennengelernt: einmal durch sein Buch Pediatric clinical skills [2], zum zweiten aber durch Zitate, die er in den von ihm betreuten kanadischen Pediatric Notes veröffentlichte. Mit gefiel vor allem folgendes Zitat:
"Hütet euch vor einstimmigen Expertenmeinungen (consensus statements). Schließlich ist der Grund, ein Expertengremium einzuberufen, in der Regel der, dass die Datenlage nicht ausreicht, eine beweisgestützte Aussage oder Empfehlung auszusprechen. Außerdem werden zu solchen Gremien (absichtlich oder unbewusst) diejenigen, die anderer Ansicht sind, nicht eingeladen. Das führt dazu, dass es dann natürlich viel leichter ist, einen Konsens zu erzielen" [3].
Ist die übereinstimmende Expertenmeinung nicht sogar die Quelle aller Irrtümer der Medizingeschichte, wie Alvan Feinstein, der Vater der klinischen Epidemiologie in den USA, 2004 behauptete [4]? Als historisch herausragendes Beispiel wären die Humoralpathologie und der jahrhundertelang in weitem Konsens durchgeführte Aderlass zu nennen, heute etwa die Cholesterinsenkung.
In der Pädiatrie galt es lange als unstrittig, dass es vernünftig sei, kranke Kinder wochenlang ohne ihre Bezugspersonen stationär zu betreuen – nicht nur, weil die Eltern störten, sondern auch, weil der Trennungsschmerz nach einem Elternbesuch schlimmer sei als gar kein Besuch. Weiter galt es lange als vernünftig, Säuglinge auf den Bauch zu legen, damit sie nicht aspirieren; oder Tonsillen zu entfernen just because they are there; oder Säuglinge vor allen möglichen Antigenen zu schützen, damit sie ja keine Allergie bekommen.
Man kann die Liste beliebig fortführen und kommentieren mit dem Satz: "Die Erkenntnisse von heute sind die Irrtümer von morgen", oder, noch schlimmer, mit dem Konrad Adenauer zugeschriebenen Satz "Wat jeht mich mein Jeschwätz von jestern an".
Aber ich will auf etwas ganz anderes hinaus: Jenseits der Wissenshalbwertszeit der Medizin, die schon vor über 20 Jahren auf unter 5 Jahre angegeben wurde [5], bleiben Wahrheiten und Weisheiten bestehen. Ich bin seit 25 Jahren niedergelassen und müsste demnach nur noch mit 3 % des pädiatrischen Wissens "meiner Zeit" auf der Höhe der Gegenwart sein. Das ist aber sicher nicht der Grund, warum mir Eltern ihre Kinder anvertrauen.
In dem Vorwort zu seiner Biographie schreibt Goldbloom, und da freue ich mich, es aus berufenerem Munde als meinem zu hören und nachlesen zu können: Er schreibt, dass man meinen müsste, dass heute, wo die großen Seuchen und Plagen der Menschheit wie Pocken, Polio, Diphtherie, Masern, Meningitiden eradiziert oder behandelbar seien, die kinderärztliche Tätigkeit weniger und leichter geworden sei. Aber das Gegenteil sei der Fall: Die neuen Morbiditäten, die psychosozialen Probleme, die Entwicklungsstörungen hätten zu einer erheblichen Ausweitung der Tätigkeitsfelder geführt. Dennoch: Die Grundbedürfnisse von Eltern und Familien seien unverändert: Von Anbeginn der ärztlichen Tätigkeit an sei die eine und wichtige Aufgabe unverändert geblieben: to relieve anxiety.
Ängste zu nehmen, zu beruhigen, Sicherheit, Ruhe und Zuversicht zu vermitteln – das ist unsere wichtigste und ureigene Aufgabe.
Aber, wie passt das zur handelsüblichen "Bangemachemedizin"? Zur "Defensivmedizin" – wir machen alles mögliche Unsinnige, um uns vor juristischen Unterlassungsvorwürfen zu schützen? Zu unseren Interessenkonflikten, dass wir von Krankheit und Chronizität leben? Zu unserem Umgang mit Zahlen und Statistiken, die über Einzelschicksale nichts aussagen? Zu unserem Forschergeist, zur pädiatrischen Erziehung, immer alles und sofort wissen zu wollen?
So erzeugen wir immer mehr Ängste und Unsicherheiten, denn ein gesundes Kind ist halt einfach noch nicht lange genug untersucht ...
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2018; 89 (6) Seite 412