Darüber, ob funktionelle Therapien und Heilmittel bei Kindern und Jugendlichen nach dem Motto "Viel hilft viel!" eingesetzt werden sollten, gibt es durchaus kontroverse Ansichten. Frau PD. Dr. med Kristina Müller vertritt die Pro-Position und unterstützt damit diese These. PD Dr. Heike Philippi findet "Weniger ist mehr" - zu ihrer Contra-Position geht es hier.
Ein wesentlicher Bestandteil sensomotorischer funktioneller Therapien sind Lernvorgänge mit dem Resultat durch Anschauung und Übung dauerhaft veränderter Bewegungs- und Verhaltensmuster.
Lernvorgängen liegen stets neurobiologische Mechanismen zugrunde. Wesentliches Element ist dabei die sogenannte synaptische Plastizität, die 1949 erstmals von dem Psychologen Hebb beschrieben wurde [1]. Er machte die fundamentale Beobachtung, dass Veränderungen der Signalübertragung zwischen Nervenzellen zu strukturalen Veränderungen (z.B. Aussprossen neuer Nervenendigungen) führen. Die Kernaussage von Hebb war: "Neurons that fire together wire together".
Die Entwicklungspsychologin Myrtle B. McGraw wies in ihrer berühmten Langzeitbeobachtung "The study of Johnny and Jimmy" [2] nach, dass gesunde Kinder durch Training schon im ersten Lebensjahr zu Höchstleistungen gebracht werden können (siehe YouTube-Dokumentation dazu [2]). Im Jahr 2001 zeigten Ulrich et al., dass durch ein Laufbandtraining Kinder mit Down-Syndrom 100 Tage früher als eine Vergleichsgruppe frei laufen lernten [3].
Heute sind aus der Verhaltensforschung entlehnte Grundprinzipien des Lernens, wie die Wichtigkeit hoher Wiederholfrequenz, Arbeiten an der Leistungsgrenze, um sowohl Langeweile wie Frustration zu vermeiden, und die Bedeutung von Rückkopplung des Verhaltensergebnisses (Feedback), aus der motorischen Therapie nicht mehr wegzudenken. Inzwischen gibt es umfangreiche Literatur aus den Motorikwissenschaften, der Neuro- und Verhaltensbiologie, tierexperimentelle Daten und klinische Studien bei Patienten mit Schlaganfall über die Wirksamkeit dieser neurobiologischen Prinzipien des motorischen Lernens als Grundlage auch für funktionelle Erholung und Therapie nach Hirnläsionen bei Erwachsenen.
Hauptfaktor einer erfolgreichen Therapie: die Intensität
In den letzten Jahren wurde deutlich, dass der Hauptfaktor einer erfolgreichen Therapie deren Intensität ist [4 – 6]. Viele Therapieformen (z. B. Constraint induced movement therapy bzw. CIMT) wurden zunächst für erwachsene Patienten entwickelt und später für Kinder mit Hirnläsionen adaptiert und haben mittlerweile einen hohen Evidenzlevel [7 – 10]. Trotzdem ist es bis heute nicht völlig klar, welche Dosis einer Therapie in einer bestimmten Situation zu dem besten Ergebnis führt. Mit Sicherheit reicht die Repetition in der konventionellen Therapie nicht aus, um eine optimale Dosis zu erzielen. Ebenfalls ist nicht klar, wie groß der Anteil von Spontanerholung nach Läsionen an der Funktionserholung ist (wahrscheinlich viel größer als angenommen!). Ebenfalls ist zumindest im Kindesalter die Breite des therapeutischen Fensters nach einer Läsion nicht beschrieben [11]. Hinweise auf sensible Phasen für erfahrungsunabhängige Plastizität kommen aus der Plastizitätsforschung [12].
Wir lernen aber auch mehr und mehr über limitierende Faktoren der Funktionserholung. Patienten mit weitgehend gestörter Pyramidenbahn, der direkten Verbindung von motorischem Cortex zum Rückenmark, zeigen wenig bis keine Funktionserholung [13 – 17].
In der neuropädiatrischen Therapie stehen vielfältige evidenzbasierte Verfahren für die obere Extremität, für das Training des Gangs und des Gleichgewichts zur Verfügung [9], siehe Abbildung 1. Bedauerlicherweise wird dieses Potenzial aber oft nicht ausgeschöpft und es bleibt bei einer Heilmittelverordnung mit 1-bis 2-mal 30 Minuten Therapie pro Woche. Eine solche viel zu niederfrequente Therapie erfüllt viele der genannten Prinzipien motorischer Lernvorgänge nicht. Oft werden jenseits aller Evidenzbasiertheit die Therapieinhalte beliebig festgelegt und oft bestehen noch keine fundierten Kenntnisse über moderne lerntheoretisch wirksame Therapieverfahren. Auch werden häufig keine klaren Therapieziele festgelegt. Schließlich fehlen dann meist auch valide Assessment-Verfahren in der Praxis. Häufig gibt es auch keine Möglichkeit, apparativ assistierende Verfahren mit erwiesener hoher Wirksamkeit gerade bei schwerer betroffenen Patienten (Laufband mit Gewichtsentlastung, Gang- und Armroboter) einzusetzen. Unter diesen Bedingungen ist ein therapeutischer Effekt nach allem, was die Neurobiologie untersucht hat, eher unwahrscheinlich, sodass die ambulante Heilmittelerbringung nicht dazu beitragen kann, den Spontanverlauf beim Kind, z. B. mit Zerebralparese, zu verbessern. Gibt es eine Lösung für dieses Problem?
Eine Alternative wären regelmäßige Komplexmaßnahmen in gut ausgestatteten Therapiezentren. Nur so kann die erforderliche adäquate Dosis an Therapie sichergestellt werden. Dabei kann den Kindern ein "Enriched environment" angeboten werden [18]. Die aufgabenspezifischen therapeutischen Verfahren können in den erfahrungsunabhängigen sensiblen Phasen stattfinden [12]. Beispiel hierfür sind nicht gehfähige Kinder mit Zerebralparese im Alter zwischen 12 und 24 Monaten, die ohne Hirnläsion bereits laufen können sollten. Auch ein intensives Heimtraining ist eine Alternative zur vertüpfelten Heilmittel-Verordnung. Hierbei könnten in Zukunft telemedizinische Verfahren zumindest die Therapiebegleitung und das Monitoring übernehmen [19, 20]. Die Entwicklung von Technologien mit Einsatz von Spielen und virtueller Realität für die Therapie von Kindern mit Hirnläsion ist zwar noch am Anfang, macht aber rasante Fortschritte und ist bereits jetzt eine interessante Bereicherung des Repertoires [21, 22].
- Es existieren multiple evidenzbasierte sensomotorische Therapien für Kinder mit kongenitalen und erworbenen ZNS-Läsionen.
- Die Wiederholungsrate bzw. die Intensität bestimmt den Therapieerfolg.
- Ein Blocktraining in einem qualifizierten Zentrum ist einer Standard-Heilmittelverordnung vorzuziehen.
Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag besteht.
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2019; 90 (4) Seite 277-278