Unser Versorgungsdenken impliziert, dass man mit der Bezahlung hoher Krankenkassenbeiträge einen Anspruch auf Gesundheit und alles, was damit verbunden ist, erwirbt, ohne dass man dafür etwas tun muss, außer eben bezahlen. Dabei kommt es in puncto Gesundheit sehr auf Eigenverantwortlichkeit an, appelliert Stephan Nolte.

Eines der Unwörter der Medizin ist das Wort „versorgen“. „Ver“ ist im allgemeinen Sprachgebrauch häufig die Vorsilbe für „falsch“. Ver-Sorgen wäre demnach falsch Sorgen, genau, wie wenn man falsch fährt, wenn man sich verfährt.

Wenn wir „integrierte Versorgung“ propagieren, oder uns über Versorgungsstrukturen, Versorgungsforschung, Versorgungsdefizite Gedanken machen, dann bemächtigen wir uns einer Sprache, die zum Ausdruck bringt, worum es hier geht oder eben nicht gehen sollte. Versorgen kann man mit Strom, Wasser, Internet, Nahrungsmitteln, aber nicht mit Gesundheit. Natürlich gibt es Bereiche, in denen es im Gesundheitswesen auf eine Versorgung ankommt, etwa die Versorgung mit Hilfsmitteln, mit Brillen, Hörgeräten, Gehhilfen, Rollatoren, Medikamenten usw. … Aber mit Gesundheit, also mit dem, um das es im Gesundheitswesen geht, kann man nicht „versorgen“. Gesundheit ist keine Handelsware.

Versorgung beinhaltet auch Anspruch auf etwas. Wenn ich meine Wasserrechnung bezahle oder meine Stromrechnung, dann erhebe ich den Anspruch, auch jederzeit Wasser und Elektrizität zur Verfügung zu haben und klage es entsprechend ein, wenn der Liefervertrag nicht eingehalten wird. In der Medizin ist es anders. Ich kann zwar viel für meine Gesundheit tun, aber einen Anspruch auf Gesundheit an sich kann ich nicht durchsetzen.

»Mit Gesundheit kann man nicht „versorgen“. Gesundheit ist keine Handelsware.«

Das Versorgungsdenken impliziert aber genau das, nämlich, dass man mit der Bezahlung hoher Krankenkassenbeiträge einen Anspruch auf Gesundheit und alles, was damit verbunden ist, erwirbt, ohne dass man dafür etwas tun muss, außer eben bezahlen. Das ist eine Denkweise, die dem Markt, dem Handel entspricht, aber nicht auf die Gesundheit anwendbar ist.

In Fragen der Gesundheit kommt es sehr auf Eigenverantwortlichkeit an. Wir können die Verantwortung für unser Leben, für unseren Körper und dessen Instandhaltung nicht abgeben. Und dennoch geben wir vieles heute an Fachleute ab. Wir meinen, die Probleme des hochkomplex gewordenen Alltags nicht mehr selbst lösen zu können und somit auf Fachkräfte zurückgreifen zu müssen. Diese – zum Teil selbst ernannten Experten – sind heute diejenigen, die dann eben zuständig sind.

Auf der anderen Seite ist es sehr schwer, Fachleute zu bekommen. Allerorten wird vom Fachkräftemangel geredet. Und von „do it yourself“. Dazu braucht es Informationen, verlässliche. Informationen, an denen es in unserer Überflussgesellschaft nicht mangelt. Es gibt keine „To do“-Anweisung, die man nicht im Internet finden könnte. So wird heute eine gewisse Selbstständigkeit und ein Umgang mit elektronischen Medien von allen vorausgesetzt, die in ihrer Komplexität selbst gewieftere Menschen – wie etwa bei der elektronischen Grundsteuererfassung – überfordert.

Nur im Gesundheitsbereich geben wir die Verantwortung ab und lassen uns versorgen. Doch das englische Wort „care“, was im Zusammenhang mit medizinischen „Leistungen“ gern gebraucht wird, hat eine ganz andere Bedeutung als versorgen, nämlich kümmern, betreuen. Die Lieferung von etwas wird eher mit „to supply“ übersetzt. Also: Auch wir müssen endlich unterscheiden lernen!


Dr. med. Stephan H. Nolte, Marburg/Lahn


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2023; 94 (4) Seite 232