"Die geflüchteten Kinder und Jugendlichen sind eine riesige Herausforderung für uns Pädiater in der Praxis", schreibt Kinderarzt Markus Landzettel - und zeigt auf, wo in der Praxis genau hingeschaut werden muss.

In einer Praxiskolumne aus dem Jahr 2015 wurden bereits die psychischen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung beschrieben. Schon damals stand die besondere Herausforderung der Kinder- und Jugendärzte im Fokus.

Dabei ging es konkret um Kinder aus den Kriegs- und Krisengebieten im Irak, Syrien, Afghanistan und Somalia. Es kamen Kinder und Jugendliche mit den Familien oder unbegleitete Jugendliche auf recht abenteuerlichen Fluchtwegen, oft zu Fuß, über mehrere Zwischenstopps mit Erlebnissen von Zerstörung, unvorstellbaren Gräueltaten in eine ihnen völlig unbekannte neue westliche Wertewelt.
Diesmal sind es Kinder und Jugendliche aus der Ukraine, die aus den umkämpften Gebieten oder vorsorglich aus Wohngebieten in Reichweite von russischem Raketenbeschuss fliehen. Jetzt kommen die Familien meist ohne die Väter, die im wehrfähigen Alter das Land vorerst nicht verlassen dürfen. Auch diese Kinder und Jugendlichen haben schreckliche Bilder im Kopf, teils selbst erlebt, teils über die Nachrichten erfahren oder auf der Flucht mitbekommen. Zudem kommt noch die Sorge um die in der Ukraine verbliebenen Väter dazu.

Diesmal scheinen die Solidarität und der Wille zur Unterstützung in der Gesellschaft größer zu sein als 2015. Es werden Spenden abgegeben und Unterkünfte angeboten. Die Nähe zum Kriegsschauplatz mit Lage in Europa sowie die unmittelbaren Auswirkungen auf dem Energie­sektor sind greifbarer als die früheren Macht- und Energiekriege der Großmächte und radikaler religiöser Gruppierungen im ­Nahen Osten.

Diesmal sind die eilig wieder aufgestellten Aufnahmeeinrichtungen nicht so gefüllt wie 2015. Viele Familien verweilen lediglich 5 – 10 Tage, um anschließend zu Verwandten oder in private Unterkünfte weiterzuziehen. Viele sehen den Aufenthalt in Deutschland ohnehin nur als vorübergehend an.

Anfang Mai 2022 waren nach Angabe der UN fast 2 Millionen, also knapp zwei Drittel aller ukrainischen Kinder und Jugendlichen seit Kriegsbeginn geflohen. Viele haben gesundheitliche Probleme, leben in Armut und haben keine staat­liche Krankenversicherung. ­Erneut eine Riesen-Herausforderung für uns Pädiater in der Praxis. Dass die Kinder schulisch gebildet sind und Hobbys wie Sport und Musik haben, erleichtert aber auch unsere Arbeit.

Auch lässt sich diesmal die Unterstützung durch Sprachmittler besser und schneller organisieren. Es gibt Benefizkonzerte, Spiel­angebote, freien Zugang zu ÖPNV und Mobilfunk, vereinfachten medizinischen Anspruch auf Versorgung und hilfreiche Internetadressen (z. B. http://www.germany4ukraine.de/hilfeportal-de). Eine Versorgung mit Leistungen der Eingliederungshilfe oder Pflegeleistungen sind über das AsylbLG möglich.

Dennoch: Die Psyche der Kinder litt und leidet weiter! Die Traumatisierungen zeigen sich in nicht immer richtig einzuordnenden Auswirkungen auf das ­(soziale) Verhalten und in körperlichen Symptomen. Auch der Blick in die Impfpässe lohnt sich. Der Impfstatus ist oft unklar. Die Ukraine hat die niedrigste Impfquoten in Europa. So fehlen die Impfungen gegen Men-C, HPV, Varizellen meist komplett und MMR überwiegend. Früherkennung und Vorsorgen müssen erst einmal außen vor bleiben, bis der Krankenver­sicherungsschutz geklärt ist. Daher gilt für uns Pädiater in der Praxis: Es muss genau hingeschaut werden. Wir müssen uns dem Leid der Kinder stellen, sie haben schon genug gelitten.


Dr. med. Markus Landzettel, Darmstadt


Autor
Dr. med. Markus Landzettel


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (4) Seite 250