Die vielen Bildschirmgeräte, die wir und unsere Kinder heute nutzen, machen den Kopf leer, rauben Zeit und hinterlassen im schlimmsten Fall leere Hüllen - ähnlich wie es die Dementoren bei "Harry Potter" tun, findet Kinderarzt Stephan Nolte - und gibt Empfehlungen zum Medienkonsum bei Kindern.
Vor 20 Jahren tauchten im 3. Band von "Harry Potter" ("Der Gefangene von Askaban") besonders gefährliche magische Wesen des Bösen auf: die Dementoren. Sie wecken in ihren Opfern böse Erinnerungen und saugen das Glück und alle mentalen Empfindungen aus. Ihre schlimmste Waffe ist der "Kuss des Dementors". Dabei wird den Opfern die Seele ausgesaugt und sie müssen ihr weiteres Dasein als leere Hülle fristen. Die einzige Möglichkeit, sich gegen sie zu wehren, ist ein Zauber: der schwierig auszuführende Patronus-Zauber. Er besteht darin, an etwas anderes, etwas Schönes zu denken, was im Kampf mit dem Dementor natürlich fast unmöglich ist, und zugleich die Zauberformel Expecto Patronum (deutsch: "Ich warte auf den Schutzpatron") auszusprechen. Daher ist der Zauber im Alltag wenig erfolgreich.
Für mich sind die vielen elektronischen Geräte, denen wir uns und unsere Kinder sich heute bedienen, auch so eine Art Dementoren: Sie machen uns den Kopf leer, rauben uns die Zeit und am Ende, bei der Internetsucht, fristet so mancher sein Dasein als leere Hülle, als Nerd, der bar jeder sozialen Beziehungen vor dem Bildschirm festsitzt. Als die Dementoren vor zwanzig Jahren beschrieben wurden, war noch nicht zu ahnen, wie sehr dieses Prinzip, – eben die Gedanken aus dem Kopf zu saugen – Wirklichkeit werden würde.
Dabei fängt das alles so harmlos an, ebenso wie bei den Dementoren: Zuerst vernebeln sie uns, dann rufen sie schlechte Gedanken hervor, etwa durch Monster, Übeltäter oder Grausamkeiten, bis sie letztlich ganz Überhand gewinnen und uns vor dem Bildschirm sozial, emotional und körperlich verkümmern lassen. Aber auch wir verfügen über den Patronus-Zauber und können ihn anwenden, auch wenn es schwer ist: die Hinwendung auf etwas Schönes, Gemeinsames, auf wirkliche echte Menschen mit wirklichen echten Gefühlen.
Es gibt viele fundierte Empfehlungen zum Medienkonsum bei Kindern. Babys und Kleinkinder sollten besser gar keine Bildschirmmedien nutzen. Ein No-Go ist der Smartphone-Halter am Maxi-Cosy. Und auch danach sollte maßvoll mit Medien umgegangen werden. Es ist nicht möglich, die Qualität einer Mediennutzung oder eines Missbrauchs in reinen Bildschirmzeiten zu messen. Daher können nur altersabhängige Anhaltspunkte empfohlen werden.
Ab dem Alter von 4 bis 6 Monaten macht es in erster Linie Sinn, zuerst regelmäßig Bilderbücher anzuschauen und vorzulesen. Bildschirmzeiten sind bis zu einem Alter von etwa 3 Jahren nicht sinnvoll, es sei denn, um einmal Fotos oder gemeinsam sehr gut ausgewählte kurze Videos oder Sendungen anzuschauen.
Keinesfalls sollte das Kleinkind mit dem Fernseher ruhiggestellt werden, auch wenn es mit großer Faszination auf den Bildschirm starrt. Bis zum Schulbeginn bleibt die Gemeinsamkeit bei der Mediennutzung das Wichtigste. Die Nutzungszeit ist natürlich abhängig von den Inhalten, sollte aber über eine Stunde nicht hinausgehen. Fernseher und Radio sollten nicht den ganzen Tag im Hintergrund vor sich hin dudeln.
Es ist sehr wahrscheinlich, wenn auch nicht schlüssig beweisbar, dass die zunehmenden Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen der Schulkinder mit der Mediennutzung in Verbindung stehen. Die wachsende Computerspielsucht wurde unter der Bezeichnung Internet Gaming Disorder bereits als medizinische Diagnose in den Internationalen Diagnosekatalog DSM 5 aufgenommen und betrifft schon fast 5 % der männlichen Jugendlichen, während bei jugendlichen Mädchen zunehmend die Social Networking-Sucht zu beobachten ist.Dr. Stephan H. Nolte,
Marburg/Lahn
Dr. Stephan Nolte, Marburg/Lahn
Dr. med. Stephan Heinrich Nolte ist seit über 25 Jahren in Marburg als Kinder- und Jugendarzt niedergelassen, ist Lehrbeauftragter an der Universität Marburg, Fachjournalist und Buchautor. Er hat 5 Kinder und 9 Enkelkinder.
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2019; 90 (3) Seite 152