Weniger ist oft mehr, erst recht in der Medizin, findet Dr. Stephan H. Nolte. In dieser Praxiskolumne mahnt er an, dass wir aktuell eine maximale, gesellschaftsergreifende Medikalisierung erleben und insbesondere die klinische Pädiatrie einen Hang zur Maximalmedizin aufweist. Für seine Praxis bevorzugt er weiterhin das Credo: „To do as much nothing as possible“.
Die klinische Pädiatrie findet in Deutschland fast ausschließlich in „Zentren der Maximalmedizin“ statt: den universitären Einrichtungen und den großen städtischen Kliniken. Die „Normalmedizin“ ist ausgestorben. Muss es denn immer Maximalmedizin sein? Reicht nicht eine Regelversorgung in den allermeisten Fällen aus? Und ist es nicht oft besser, möglichst wenig zu intervenieren und der Spontanheilung zuzuschauen? Das ist wirkliche ärztliche Kunst, die nur in der praktischen Anwendung und nicht aus Lehrbüchern zu lernen ist: zu unterscheiden, wann Maximalmedizin, Regelversorgung und wann Minimalmedizin die Therapie der Wahl ist. Dass weniger oft mehr ist, erfahren wir täglich zur Genüge.
Bis neulich – das heißt bis vor Corona – konnte ich mein Konzept gut durchhalten: keine anlasslosen Testungen (z. B. auf Streptokokken), Unterscheidung von Besiedlung und Krankheit, keine Untersuchungen ohne Fragestellung und Bedenken der Konsequenzen. Spiel, Frischluft, Bewegung und Freude als Grundlage für ein gesundes Kinderleben, frei von Bildschirmmedien und klimatisierten Innenräumen.
Die Auswirkungen einer maximalen, gesellschaftsergreifenden Medikalisierung erleben wir im Moment. Täglich bekommen wir Bilder von Intensivstationen, Blaulichtfahrzeugen, vermummten Gestalten, Impfampullen und -spritzen präsentiert. Die ganze Bevölkerung wird zu Hobby-Epidemiologen, die sich mit Inzidenzen, R-Werten, lateral flow tests, ct-Raten bei PCRs auseinandersetzen, und dann noch mit alarmierenden Fallzahlen, die ja nichts anderes sind als positive Testergebnisse und eigentlich zunächst nicht den Krankenstand oder gar die Sterblichkeit darstellen.
Das überall zu hörende „Und bleiben Sie gesund“ ersetzt die Grußformel „Santé“, den die „Methode“ in Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“ vorschreibt, in einem Überwachungsstaat, der die Lebensführung und das Benehmen jedes Einzelnen kontrolliert, um seinen Bürgern Gesundheit zu ermöglichen. Ein gewisses Maß an staatlichem Dirigismus ist in Pandemiezeiten wie diesen sicher auch notwendig. Strittig ist aber die Frage, wann das Maß mit Eingriffen des Staates – wie die derzeitige Debatte um die Impflicht ja zeigt – überschritten wird.
Meine Praxis soll aber auch in Zukunft in jedem Fall ein Zentrum der Minimalmedizin bleiben. „To do as much nothing as possible“, wie schon Samuel Shem in seinem, ganzen Generationen von Medizinstudenten bekannten Buch „House of Gods“ predigte. Leider wurde es eher als eine Satire denn als ein realistisches Spiegelbild der Medizin in einem gewinnorientierten Medizinsystem angesehen.
Jetzt stellen sich in diesem Kontext ganz neue Fragen: Zum Beispiel, was wir nun gerade im Hinblick auf das allgemeine Kindeswohl, abgesehen von „nur nicht (corona-)krank oder ansteckend sein“, für die Kinder maximal tun können, um zumindest deren minimales Wohlbefinden und deren unbeschwertes Kindsein und Aufwachsen zu gewährleisten – was derzeit offensichtlich nicht der Fall ist. Kinder werden so zu den nachhaltigsten Opfern einer Epidemie gemacht, deren Folgen heute noch nicht annähernd absehbar sind. Dabei haben sie keine Stimme und kein Wahlrecht. Und sie werden von mutlosen, ängstlichen und egoistischen Alten regiert, die das maximal genießen konnten, was sie der Jugend nun schon seit fast 2 Jahren verwehren.
Dr. Stephan H. Nolte, Marburg/Lahn
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (1) Seite 6