Digitale Medien für Kinder - Fluch oder Segen? Es war dringend an der Zeit, dass die pädiatrischen Gesellschaften eine gemeinsame Empfehlung für Eltern für einen achtsamen Bildschirmmediengebrauch erstellt haben, die bei den Vorsorgeuntersuchungen eingesetzt werden kann, findet Kinderarzt Markus Landzettel.

Es ist Montagmorgen. Bei einem Kleinkind ist eine Kontrolluntersuchung von Blutwerten vorgesehen. Ich stelle mich, bei dieser für das Kleinkind schmerzhaften Maßnahme, bereits auf eine heftige Abwehr und meine Ohren auf evtl. betäubende Dezibelpegel ein. Nun zückt die Mutter aber ihr Smartphone, öffnet einen Zeichentrickfilm und lässt ihr Kind – zur Ablenkung – nun gespannt auf den Minibildschirm starren. Die Blutentnahme klappt diesmal bei einem maximal abgelenktem Kind erstaunlich gut. Stress gibt es lediglich, als die Mutter den noch nicht fertig angeschauten Film beendet, da die Blutentnahme vorbei ist. Meine Ohren bekommen also doch noch einige Dezibel ab.

"Toll!", denke ich im ersten Moment. Das ist ja ein prima Effekt der digitalen Medien. Beruhigung durch Glotzen auf Bildschirme.

"Schade!", denke ich im zweiten Moment. Da wurde eine Chance vertan, ein Kind adäquat auf einen zu ertragenden Schmerzreiz vorzubereiten, zu trösten und zu loben; also Elternkompetenz zu zeigen. Diese Kompetenz scheint bei vielen schon verlorengegangen zu sein. Also Fluch oder Segen?

Die Ausbreitung der digitalen Bildschirmmedien haben unsere Gesellschaft – und damit auch unsere Praxen – überrollt und nachhaltig verändert. Die Sorge der Pädiater und Psychologen um die gesundheitlichen Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen ist dabei bereits früh geweckt worden. Durch die verschiedenen Studien (z. B. BLIKK-Projekt, BELLA-Studie) gibt es klare Erkenntnisse zu den negativen Auswirkungen und entsprechende Empfehlungen, für die Eltern und Laien aber auch zum Teil verwirrende Ratschläge.

Nach Ansicht vieler selbsternannter Medienpädagogen gehört der Gebrauch digitaler Medien bereits in den Kindergarten, die Vor- und Grundschule, um durch den frühen Einsatz der digitalen Medien eine Medienkompetenz zu entwickeln. Es gibt daher auch etliche Initiativen, die mit viel Geld von Industrieseite und Regierungsbeteiligung gesponsert werden. Bereits 2004 entschieden die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) und die Kultusministerkonferenz (KMK), dass nicht nur Medien-, sondern auch informationstechnische Bildung zu den Aufgaben früher Bildung in Kitas zählt.

Man gewinnt aber den Eindruck, dass kaum ein Politiker die fatalen Auswirkungen dieser Ausrichtung erahnt. Denn Kinder verlernen so einfach das Spielen und damit das Erlernen am Gebrauch von realen Dingen. Mit dem Wissen, dass gutes Spielzeug aus 90 % Kind und 10 % Zeug besteht, sind Bildschirmmedien daher als sensorische Desintegrationsapparate anzusehen. Nach dem Prinzip "use it or loose it" verlieren die Kinder und Jugendlichen die durch haptische Erfahrung und durch wirklich erlebte Interaktion mit anderen Spielpartnern erworbenen wichtigen Erfahrungen, gute fein- und grobmotorische Fähigkeiten und spielerische Phantasie. Zudem fehlt den Kindern und Jugendlichen das Lernen mit dem Gegenüber. Wie Martin Buber schon sagte: "Der Mensch wird am Du zum Ich."

Die Lehrkräfte haben auch erkannt, dass die Lesefertigkeit bei Kindern und Jugendlichen in dem Maße sinkt, wie digitale Medien verwendet werden. Schüler haben mittlerweile Probleme, zusammenhängende lange Texte aufmerksam und konzentriert zu lesen. Das Ablenkungspotenzial bei digitalen Medien ist einfach viel zu groß. Das Risiko für Konzentrationsmängel, Aufmerksamkeitsdefizite, nachlassende Empathie, emotionale Störungen oder Suchtgefährdungen und vieles mehr sind deutlich erhöht.

Daher war es dringend an der Zeit, dass die verschiedenen pädiatrischen Gesellschaften nun eine gemeinsame Empfehlung für Eltern für einen achtsamen Bildschirmmediengebraucherstellt haben, die im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen eingesetzt werden kann. Wir Pädiater sollten diese aber jetzt auch unbedingt nutzen!

Weitere gute Informationen für die Beratung von Eltern können zudem unter www.bvkj.de, www.bzga.de, www.schau-hin.info oder www.no-zoff.ch kostenlos heruntergeladen werden.

Dr. Markus Landzettel, Darmstadt


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2018; 89 (4) Seite 236