"Kinder müssen raus, am besten so lange wie möglich – jeden Tag", appelliert Kinderarzt Dr. Nolte aus Marburg - und nennt einfache Maßnahmen für mehr Licht und Luft im Alltag von Kindern.

Eine der Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus ist das großzügige Lüften. Damit ist aber das Falsche gemeint: nämlich das Lüften der Räume, in denen sich die Kinder aufhalten. Das ist schwierig, in Zukunft noch mehr als bisher. Denn das ständige Lüften der Räume ist während der Heizperiode eine Energieverschwendung ohnegleichen, die wir uns in der gegenwärtigen Energie- und Klimakrise nicht mehr leisten können.

Statt die Räume zu lüften, sollten die Kinder mehr draußen sein – auch bei Wind und Wetter. Da ist es nicht nur leichter, Abstand zu halten, es tut auch insgesamt gut. Nicht umsonst sind Waldkindergartenkinder weit gesünder als andere: Während sich die Krankheitsfälle in der Kita um 8 % bewegten, lagen sie bei einer naturnahen Betreuung unter 3 %. Ich habe in meiner kinderärztlichen Praxis oft erlebt, dass Kinder drinnen bleiben mussten, weil es draußen regnete oder angeblich zu kalt war. Stattdessen wurden sie in völlig überhitzten, stickigen Räumen eingesperrt. Doch Kinder müssen raus, am besten so lange wie möglich – jeden Tag.

Kurze Hosen trugen in meiner Kindheit viele fast das ganze Jahr, auch ich. In englischen Grundschulen war es vor 50 Jahren sogar vorgeschrieben, dass Mädchen Röcke trugen, auch bei kalten Temperaturen, und die Jungen mussten immer – auch im Winter – kurze Hosen tragen. Jetzt wurden sogar in England in manchen Schulen kurze Hosen verboten – die Jungen sollten stattdessen Röcke tragen, wenn ihnen zu warm war.

Kindergartenkinder, auch Jungen, tragen heute fast das ganze Jahr Strumpfhosen, die Mädchen hautenge Leggings. Ob das für den Vitamin-D-Haushalt gut ist? Für die Haut ist es jedenfalls nicht gut, sie braucht Licht und Luft, wie das ganze Kind. Eine Grundtherapie der so häufigen Ekzeme der Prädilektionsstellen in Kniekehlen und Ellenbeugen besteht darin, enge Kleidungsstücke wegzulassen, luftige Baumwollkleidung zu tragen und das ständige Abseifen und Waschen zu lassen.

In Erziehungsratgebern des 19. Jahrhunderts wurde für alle Vorschulkinder eine Einheitskleidung empfohlen. So schlug der Arzt und Gesundheitserzieher Bernhard Christoph Faust (1755 – 1842) bereits 1792 in seinem Gesundheitskatechismus zum Gebrauch in Schulen und beim häuslichen Unterricht – der ersten Schrift für medizinische Volksaufklärung überhaupt – ein Kittelchen als Einheitskleidung vor. Auch entwickelte er die fortschrittliche Sonnenbaulehre, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Gesundheitszustand und Wohnverhältnissen beschäftigt. Faust wendet sich an die Lehrer und schreibt: "Bey jedem Kinde, das die Mittel zum Vernünftig werden erlernt hat, sollte daher in allen Schulen der Unterricht mit dem Körper seinen Anfang nehmen. Über die Gesundheit sollten alle Kinder in der Schule ausführlich und gründlich unterrichtet werden."

Das ist ein Ziel, welches wir auch über 225 Jahre später nicht erreicht haben: eine Gesundheitserziehung als Schulfach. So fallen Kinder den abstrusen Gesundheitsvorstellungen ihrer Lehrer und Erzieher zum Opfer – in den Praxen erleben wir nur zu oft die Folgen davon.

Die Angst, dass Kinder sich "erkälten", ist völlig unbegründet und in der wissenschaftlichen Medizin schon lange nicht mehr haltbar. Natürlich sollen sie nicht frieren, aber ein bisschen "Abhärtung" tut Kindern gut – ohne diesen Begriff ideologisch werden zu lassen. Also: Lüften wir sie!


Dr. Stephan H. Nolte, Marburg/Lahn


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (6) Seite 416