"Wir leben mit einer massiven 'legislativen Überschuldung': Privatmenschen, unsere Praxen, andere kleine und große Unternehmen, aber auch Behörden etc. können der Normen- und Gesetzesflut nicht mehr Herr werden", beschreibt Kinderarzt Nolte das Dilemma, das auch den Arbeitsalltag in Kinderarztpraxen und Kinderkliniken belastet. Was tun?

Ich weiß nicht, wer den Begriff der "Bürokratieinsolvenz" geprägt hat. Googeln lässt er sich noch nicht. Das erste Mal begegnete er mir in einem Posting von Till Reckert, des Landespressesprechers des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Baden-Württemberg, auf der Intranetplattform PädInform. Damit wird ein Phänomen benannt, was uns schon so lange begleitet, doch bisher nicht mit Namen fassbar war. Auch im Internet nicht.

Dr. Google: "Es wurden keine mit deiner Suchanfrage – "Bürokratieinsolvenz" – übereinstimmenden Dokumente gefunden". Vorschläge:

  • Achte darauf, dass alle Wörter richtig geschrieben sind.
  • Probiere es mit anderen Suchbegriffen.
  • Probiere es mit allgemeineren Suchbegriffen.

Denn schon lange sinne ich darüber nach, wie der wachsenden Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit Herr zu werden ist. Das betrifft den gesamten Alltag, alle Lebenslagen, alle Prozesse, in unseren Praxen, in den Kliniken, überall. Mein Bruder, Architekt, hat einen Altbau saniert: Brandschutz und Energieversorger blockieren sich mit ihren gegenseitigen Vorschriften in eine unlösbare Pattsituation. Auch war der "Dieselgate" nichts anderes als der faule Versuch aller Automobilhersteller, nicht einhaltbare Vorschriften durch Änderung der Randbedingungen auszutricksen, um so zu tun, als würde man einem unerreichbaren Anspruch genügen. Diese Mentalität schleicht sich durch unser ganzes Gesellschaftsleben, sie ist uns unentrinnbar auferlegt.

Wenn ein Unternehmen mehr schuldet, als es bezahlen kann, muss es Insolvenz anmelden. Gleiches gilt für einen Privatmann. Unser Staat aber, der schon lange mehr reguliert, als es ihm überhaupt zu verwalten möglich ist, müsste längst "Bürokratieinsolvenz" anmelden. Denn der Menge der durch staatliche Rechtsverordnungen und -vorschriften angeordneten Pflichten ist von Individuen, Praxen, Unternehmen nicht mehr zu bewältigen.

Wir leben mit einer massiven "legislativen Überschuldung": Privatmenschen, unsere Praxen, andere kleine und große Unternehmen, aber auch Behörden und Gerichte, Träger organisierter Selbstverwaltung wie unsere Kassenärztlichen Vereinigungen und die Sozialversicherungskassen können der Normen- und Gesetzesflut nicht mehr Herr werden.

Zwar darf man annehmen, dass jede einzelne Vorschrift, jedes Gesetz ursprünglich gut gemeint, für sich isoliert sinnvoll zu sein scheint und wohl auch in der Intention am Gemeinwohl orientiert ist. Das Problem dabei ist jedoch die schiere Menge, die kumulierte Belastung, die schlichtweg dazu führt, dass wir nur noch "im eigenen Saft braten": Wir könnten in der Praxis inzwischen den ganzen Tag damit zubringen, Qualitätsmanagement zu machen, Datenschutz- und Hygienevorschriften umzusetzen, Personalgespräche zu führen, Wirtschaftlichkeitsprüfungen anzustellen und Abrechnungsoptimierung zu betreiben.

Schon während meiner Klinikzeit, die inzwischen 35 Jahre zurückliegt, habe ich manchmal darüber sinniert, dass das Einzige, was den Stationsablauf und all seine Routinen und Anforderungen stört, eigentlich die Patienten sind. Irgendwann werden Institutionen zum Selbstzweck und dienen nur noch der Eigenbetrieblichkeit. Dann wird es höchste Zeit, sie aufzulösen und den Bedarf neu zu definieren.

Dr. med. Stephan H. Nolte, Marburg/Lahn


Autor:
© Angelika Zinzow
Dr. med. Stephan H. Nolte
Dr. med. Stephan Heinrich Nolte war 30 Jahre in Marburg als ­Kinder- und Jugendarzt niedergelassen, ist Lehrbeauftragter an der Universität Marburg, Fachjournalist und Buchautor. Er hat 5 Kinder und 10 ­Enkelkinder.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2024; 95 (2) Seite 80