Kinderarzt Markus Landzettel bringt in seiner Praxiskolumne die ganze Tragödie des Nahost-Konfliktes auf den Punkt. Was ist zu tun? "Es muss dringend der Rückstand an Bildung aufgeholt werden. Damit können Vorurteile und Feindbilder abgebaut werden", appelliert er und fordert auch pädiatrisch zum Handeln auf.
In meiner Praxis habe ich viele Familien unterschiedlicher Herkunft: Eine stammt aus Gaza, sie ist von dort vor Jahren geflohen, da Familienmitglieder durch israelischen Beschuss auf Reaktion von Raketenanschlägen der Hamas umgekommen waren. Die Familie ist sehr sympathisch und hat 4 Kinder. Sie sind alle hier in den Kindergarten und die Schule gegangen, sprechen gut Deutsch. Die beiden Ältesten machen gerade eine Ausbildung. Bisher waren sie immer in großer Sorge um die in Gaza verbliebenen Familienangehörigen, unter denen es leider auch immer mal wieder zu Todesopfern durch Beschuss aus Israel kam. Auch das Elend des kargen und kontrollierten Lebens dort hat sie sehr belastet. Dennoch kam nie ein Wort des Hasses gegen Israel über deren Lippen. Sie waren eher traurig und wünschten sich neben Frieden für alle auch einen eigenen Staat. Nach dem Terrorangriff der Hamas sind sie nun massiv verzweifelt, da sie um ihre Familie fürchten.
Eine andere jüdische Familie stammt aus der Ukraine und hat Verwandtschaft in Israel. Sie hat durch den Ukrainekrieg und den Angriff der Hamas in beiden Erdteilen Familienangehörige und Freunde verloren. Zudem fühlt sie sich nun auch in Deutschland nicht mehr sicher. Ich bin sprachlos und deprimiert, dass es immer die Zivilbevölkerung ist, die leiden
muss.
Der (pädiatrische) Blick sollte ja immer auf die Seele und Psyche der Opfer gerichtet sein, um diesen bei der Verarbeitung des empfundenen Traumas zu helfen. Das war bei den oben genannten geflüchteten Kindern und Jugendlichen und denen aus Afghanistan, aus Syrien und anderen Ländern auch so.
Wir leben in einer gefährlichen Zeit: Demagogen, Rechts- und Linksradikale, Trolle im Internet u. a. haben das soziale Klima in Deutschland nachhaltig gestört. Ich frage mich schon länger, warum eigentlich zwischen der sehr guten Arbeit der Sozial- und Kindheitspädagogik oder Erziehungswissenschaft in Kindergemeinschafts-Einrichtungen oder Schulen bei vielen Menschen so viel an Mitmenschlichkeit und sozialer Verantwortung verlorengeht.
»Es muss dringend der Rückstand an Bildung aufgeholt werden. Damit können Vorurteile und Feindbilder abgebaut werden.«
Bei dem heimtückischen Anschlag der Hamas auf eine feiernde israelische Zivilgesellschaft tun sich nun einige erstaunlich schwer, den Opfern genügend Empathie entgegenzubringen. Die Freudentänze auf den propalästinensischen Demonstrationen, das Zerstören gehisster Israel-Flaggen und die merkwürdige Allianz deutschen antisemitischen Gedankenguts mit antiisraelischer muslimischer Hetze sind unübersehbar. Auch die vielen sinnlosen Diskussionen mit der Aufrechnung, wie viele Tote es auf welchen Seiten gegeben hat, und wer wann wie angefangen hat, verstellt den Blick auf das Leid der Zivilbevölkerung auf beiden Seiten.
Was macht dies alles mit unseren jüdischen Mitbürgern, welche Ängste und Sorgen führen zur Traumatisierung? Was ist zu tun? Wir müssen pädiatrisch handeln: zuhören, Verständnis für die Sorgen zeigen, beistehen, die Augen offenhalten und dort einschreiten, wo verfassungswidriges Handeln unterbunden werden kann.
Es muss dringend der Rückstand an Bildung aufgeholt werden. Damit können Vorurteile und Feindbilder abgebaut werden. Das müsste das Schulwesen als wichtigsten Bildungsauftrag verstehen, da dies auch die Demokratie schützt. Es muss das deutsche Strafrecht, Paragraf 86a, in den Schulen und öffentlichen Plätzen konsequenter bei verfassungswidrigen Verstößen angewendet werden. Und vieles mehr.
All das kann ein langwieriger Prozess sein. Aber man sollte umgehend damit anfangen – und zwar jetzt!
Dr. med. Markus Landzettel, Darmstadt
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2024; 95 (1) Seite 6