Unter dem Motto "Gesundheit für alle" fand vom 03. bis 05. 05. 2017 der 67. Wissenschaftliche Kongress des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD) in München statt. Einmal mehr standen sozialpädiatrische Themen besonders im Fokus.

Der ÖGD-Kongress wurde zusammen mit dem Bayerischen Landesamt für Lebensmittelsicherheit (LGL) und der Gesellschaft für Hygiene, Umweltmedizin und Prävention (GHUP) ausgerichtet. Die Symposien des Fachausschusses Kinder- und Jugendgesundheit (KJGD), die ein Update zu wesentlichen Aufgabenfeldern gaben, wurden in besonderer Weise diesem Leitgedanken gerecht.

Brandenburg-Leitfaden zum präventiven Kinderschutz weiterentwickelt

Der "Brandenburger Leitfaden zur Früherkennung von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche" – nunmehr in der 6. Auflage seit 2003 veröffentlicht –, wurde in seiner aktuellen Version vorgestellt, in die neue Erkenntnisse zur Epidemiologie und Erfahrungen im Fallmanagement und der Zusammenarbeit von Hilfesystemen eingeflossen sind. Seit über 13 Jahren bietet dieser Leitfaden Akteuren Unterstützung in Bezug auf das Erkennen von Gewalt, das Fallmanagement und auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Gesundheitswesen und der Jugendhilfe – für den KJGD eine conditio sine qua non auch in diesem Handlungsfeld.

Viel beachtetes Thema: chronisch kranke Schüler und Schulgesundheitsfachkräfte

Die Versorgung und Betreuung chronisch kranker Kinder in der Schule ist eine wesentliche Aufgabe, die weder von SGB V-Leistungsträgern, noch vom pädagogischen System allein bewerkstelligt werden kann. Ob der Appell des 120. Deutschen Ärztetags 2017 an die Kultusministerien, über die Schulaufsichtsbehörden eine medizinische Grundversorgung bei chronisch kranken Kindern "auch durch die Lehrer sicherzustellen", Gehör findet, geschweige denn umsetzbar ist, sei dahingestellt. Unterstützung durch Schulgesundheitsfachkräfte, die eng mit dem KJGD kooperieren, könnte auch hier ein wirksames Mittel sein.

Frau Dr. Gabriele Ellsäßer vom Landesamt für Arbeitsschutz, Verbraucherschutz und Gesundheit des Landes Brandenburg präsentierte auch den aktuellen Stand der fachlichen Begleitung des Modellprojekts "School nurse"/Schulgesundheitsfachkraft in Brandenburg und Hessen. In der Projektphase II sind 10 Schulgesundheitsfachkräfte in 20 Modellschulen seit Februar 2017 bis Oktober 2018 tätig und arbeiten eng mit den KJGD zusammen. Bemerkenswert ist das Modell der Mischfinanzierung durch die Gesundheitskasse, die Unfallkasse Brandenburg und das Bundesland selbst. Bildungs- und Gesundheitsministerium verfolgen und begleiten den Projektverlauf mit Interesse.

Das Teilhabegesetz: Folgen für die Begutachtungspraxis des KJGDs

Neue gesetzliche Grundlagen wie das Bundesteilhabegesetz (BTHG) bringen auch für die KJGD neue Herausforderungen mit sich. Inwieweit sich die Anwendung des ICF-CY in der Begutachtungspraxis zur Beurteilung von Teilhabeeinschränkungen nutzen lässt, wurde von Dr. Andrea Schröer aus dem Gesundheitsamt Marburg-Biedenkopf anhand von Praxisbeispielen anschaulich erläutert. In diesem Kontext wurde kritisch beleuchtet, welche Konsequenzen sich für die Eingliederungshilfe von Kindern und Jugendlichen ergeben, wenn eine sukzessive Verlagerung in die Verantwortung von Jugendhilfe erfolgen wird. Die Eingliederungshilfe für den Personenkreis mit "abweichender seelischer Gesundheit" nach § 35 a des SGB VIII bleibt unverändert und nutzt in der Regel die gutachterliche Expertise der KJGD; für andere Formen der Eingliederungshilfe hat sich in der Regel die Kooperation zwischen den Sozialhilfeträgern und KJGD bewährt. Es bleibt zu hoffen, dass dieses auch für die neu konzipierte Konstellation mit der Jugendhilfe gelten wird.

Update zur Gesundheit von Flüchtlingskindern und Heranwachsenden

Mit der Gesundheit von Flüchtlingskindern beschäftigte sich der Vortrag von Frau PD Dr. Erika Sievers, in dem aktualisierte Daten, Fakten und Herausforderungen für den KJGD fundiert und spannend vorgetragen wurden. Fazit einer umfassenden Zusammenstellung ist, dass die Gesundheitsversorgung in den Herkunftsländern verstärkt in den Blick genommen werden muss, zu denen Einflüsse von Tradition, Religion und Kultur ebenso gehören wie spezifische infektiöse Erkrankungen und unterschiedliche, in der Regel weniger umfangreiche Impf- und Screeningprogramme. Auf die Konfrontation mit neu entdeckter angeborener Schwerhörigkeit, Katarakten durch Rötelnembryofetopathie und mit weiblicher Genitalverstümmelung muss man sich einstellen. Spezifische Risiken, auf die Kinder, Jugendliche und Familien im Einwanderungsland unvorbereitet treffen, können zu Ertrinkungs- und Verkehrsunfällen sowie Vergiftungen führen.

Die immer noch weit verbreitete Sorge, dass durch Migranten vermehrt Infektionsrisiken für die Bevölkerung entstehen, erweist sich nach den Analysen des Robert Koch-Instituts (RKI) bis zum heutigen Tag als unbegründet. Weiterhin sieht das RKI keine erhöhte Infektionsgefährdung der Allgemeinbevölkerung durch Asylsuchende – wenn denn STIKO-gemäß geimpft und gängige Basishygiene angewandt wird. Eine Gefährdung besteht eher in umgekehrter Richtung, also für Asylsuchende, sofern sie nicht durch zeitnahe Impfprogramme bei Einreise erreicht werden.

Seiteneinsteigenden-Untersuchung: Herausforderung und Chancen

In 7 Bundesländern finden Seiteneinsteigenden-Untersuchungen als gesetzlich verankerte Pflichtaufgaben statt, in Bayern, Rheinland-Pfalz und Sachsen generell nicht und in den übrigen Bundesländern teilweise.

Diese Untersuchungen sind nicht nur für die individuelle Gesundheitsversorgung, Förderung und Perspektive der Kinder und Jugendlichen von Bedeutung, sondern ermöglichen eine epidemiologische Erfassung ihrer gesundheitlichen Befunde und Bedarfe. So liegen in NRW hierzu ca. 1.000 Datensätze vor. Schulrelevante körperliche Erkrankungen weisen bis zu 30 %, kontroll- bzw. abklärungsbedürftige Sehtestbefunde etwa 22 % der Untersuchten auf. Betrachtet man den Body-Mass-Index, so zeigt sich, dass in etwa gleich viele Kinder unter- bzw. deutlich untergewichtig wie übergewichtig (ohne Berücksichtigung des Anteils der Adipösen) sind. Dieses Phänomen ist bei der Einschulungsuntersuchung in der "genuinen" Bevölkerung nicht zu verzeichnen. In der Altersgruppe von 6 bis 10 Jahren weisen knapp 5 % der Mädchen und 2,1 % der Jungen erhebliches Untergewicht auf!

Die Seiteneinsteigenden-Untersuchung stellt eine (oft allerdings erst spät zum Tragen kommende) Chance dar, Kinder und Jugendliche zu erreichen und "basale" Gesundheits- und Entwicklungsrisiken frühzeitig zu erfassen und anzugehen. Die Möglichkeiten, ad hoc hinreichende Aussagen zu Förderbedarfen für das pädagogische Personal zu machen, sind hingegen eher begrenzt. In der Kommunikation ist man häufig auf Unterstützung durch Dolmetscher und Sprachmittler angewiesen; es gelingt in der Regel, durch sorgfältige, kultursensible und empathische Vorgehensweise den Kindern, begleitenden Elternteilen und unbegleiteten Jugendlichen Wertschätzung zu vermitteln und sie für ggfs. weiter notwendige Schritte oder die Annahme von Unterstützungsmöglichkeiten zu motivieren. Ein willkommener Nebeneffekt ist das Gewinnen epidemiologischer Daten zur gesundheitlichen Situation, die es perspektivisch für Gesundheitsversorgung und -planung zu nutzen gilt – eben auch im Sinne des Kongressmottos "Gesundheit für alle".

Einschulungsuntersuchungen in 14 Bundesländern

Der Aktivität und der Bündelungsfunktion des Fachausschusses KJGD des BVÖGD ist es zu verdanken, dass eine Synopse zu Schulärztlichen Einschulungsuntersuchungen (SEU) in Deutschland vorliegt. Es kann nicht genug betont werden, dass in 14 von 16 Bundesländern eine schulärztliche Untersuchung zur Einschulung verbindlich ist. Zum einen werden der aufnehmenden Schule durch das ärztliche Gutachten zur Einschulung wertvolle Hinweise zu schulrelevanten Gesundheits- und Entwicklungsbesonderheiten des Kindes gegeben. Darüber hinaus hat die Untersuchung individualmedizinische, sozialkompensatorische, betriebsmedizinische und epidemiologische Funktionen. Ein Entwicklungsscreening gehört obligat dazu; mittlerweile wird in mehreren Bundesländern hierzu das bewährte SOPESS-Verfahren angewandt, das im Auftrag des Landeszentrums Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen zusammen mit der Universität Bremen und den KJGD-Leitungen in NRW entwickelt wurde; es zielt insbesondere auf die Erfassung von Vorläuferfähigkeiten für schulisches Lernen ab.

Bei der SEU sind Anamnese und Untersuchungsinhalte weitgehend identisch, Befunde werden standardisiert erhoben, bewertet und dokumentiert und sind so qualitätssichernden Maßnahmen zugänglich. Daraus ergeben sich Chancen für regionale und vergleichende Auswertungen, die wiederum Impulse für Gesundheitsplanung geben können. Ein gutes Anwendungsbeispiel ist das Identifizieren von regionalen Impfdefiziten, denen man durch geeignete Maßnahmen wirksam begegnen kann. Angesichts der zunehmend in den Blick gerückten Notwendigkeit, prioritäre Präventionsbedarfe landesweit und kommunal zu identifizieren, gibt es hier vieles anzubieten und zu nutzen.

Motto für 2018: ÖGD – jetzt erst recht

Es bleibt zu bedauern, dass die Zahl der Kongressteilnehmer außerhalb des ÖGDs gering ist. Vielleicht gelingt eine frühe Werbung für den nächsten ÖGD-Kongress in Osnabrück unter dem Motto "Der Öffentliche Gesundheitsdienst – jetzt erst recht!". Es wäre schön, wenn viele Sozialpädiater diesem imperativen Appell folgen würden und in der Zeit vom 26. – 28. 04. 2018 die Arbeit und Expertise des KJGDs ins rechte Bild setzten. So ließe sich manche falsche Zuschreibung und manches Vorurteil aus dem Wege räumen und die Kooperation im Interesse der gemeinsamen Verantwortung für Kinder und Jugendliche ausbauen und optimieren.


Korrespondenzadresse
Dr. Ulrike Horacek
Kinder- und Jugendärztin
Leiterin des Gesundheitsamtes Kreis Recklinghausen
DGSPJ-Vorstandsmitglied

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (5) Seite 336-338