Professor Dr. Angelika Schlarb ist Kinderpsychologin in Bielefeld und Professor Dr. med. Ekkehart Paditz Kinder- und Jugendarzt in Dresden. Die beiden haben im Frühjahr das Jahrbuch "Baustelle Kinderschlaf – Aktuelle Kinderschlafmedizin 2016" herausgegeben. Was gibt es Neues und Wissenswertes? Wir haben nachgefragt.
Kinderärztliche Praxis: Bei Schlafstörungen denkt man häufig zuerst an Säuglinge. Bei welchen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter können Schlafstörungen eine Rolle spielen?
Prof. Paditz: Organisch und nichtorganisch bedingte Schlafstörungen können in jeder Altersgruppe vom Säugling über das Kleinkindes-, Vorschul-, Schul- und Jugendalter auftreten. Obstruktive Schlafapnoen mit den beiden Leitsymptomen nächtliches Schnarchen und Tagesmüdigkeit oder auch Hyperaktivität stellen im Kindes- und Jugendalter genauso wie bei Erwachsenen die häufigste schlafbezogene Atmungsstörung dar. Weitere Beispiele sind die Narkolepsie, das Undine-Syndrom (CCHS, congenital central hypoventilation syndrome) und die Ateminsuffizienz im Schlaf infolge von neuromuskulären Erkrankungen wie Muskeldystrophie Duchenne oder spinaler Muskelatrophie. Ein- und Durchschlafstörungen können z. B. auch durch Alpträume sowie durch Interaktionsprobleme zwischen dem Kind und den Eltern ausgelöst werden.
Wo und wie können Kinderärzte in Zweifelsfällen Unterstützung erhalten?
Prof. Paditz: Für den niedergelassenen Kinderarzt stellt es eine Herausforderung dar, zu entscheiden, ob eine Beratung der Eltern ausreicht und das Problem lösen kann oder ob Kinderpsychologen, Neuropädiater, HNO-Ärzte und Kinderschlafmediziner einbezogen werden sollten. In Zweifelsfällen stehen zur weiteren Abklärung und auch für Auskünfte bundesweit eine ganze Reihe von Kinderschlaflaboratorien zur Verfügung, mit denen man vorab abstimmen kann, ob weitergehende Differenzialdiagnostik ratsam erscheint.
Eine Landkarte und eine Liste mit Adressen und Ansprechpartnern ist im Buch enthalten. Kinderärzte finden praxisorientierte Übersichten zur Diagnostik und Therapie kindlicher Schlafstörungen. Dazu gehört u. a. eine Liste aktueller Fragebögen, die auch in der Kinderarztpraxis verwendet werden können. Diese Fragebögen stehen kostenlos online zur Verfügung.
Es wird viel über das Thema Chronotyp (Abendtyp, Morgentyp) und früher Schulbeginn diskutiert. Welchen Einfluss hat der Chronotyp nach den neuesten Forschungsergebnissen auf die morgendliche geistige Leistungsfähigkeit?
Prof. Schlarb: Die meisten Kinder sind in Bezug auf den Chronotyp "Indifferenztypen", nur ein geringer Prozentsatz ist ein Morgentyp ("Lerche") oder Abendtyp ("Eule"). Christoph Randler aus Tübingen fand bei 1.560 Kindern im Alter von 0 bis 6 Jahren 43 % Indifferenztypen, 56 % "Lerchen" und nur 1 % "Eulen". Später verschiebt sich diese Verteilung zugunsten der Indifferenztypen. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand wird der individuelle Chronotyp nur zu ca. 25 % durch individuelle genetische Prädispositionen determiniert. Etwa 70 – 75 % chronobiologisch bedingter Reaktionsbereitschaften werden durch ein ganzes Bündel von Einflüssen geprägt und im Laufe des Lebens immer wieder verändert.
Welche Einflüsse sind das zum Beispiel?
Prof. Schlarb: 3- bis 6-jährige Kinder folgen z. B. dem sogenannten sozialen Jetlag ihrer Eltern, das heißt, am Wochenende werden die Schlafdefizite ausgeglichen, die sich im Laufe der Woche angesammelt haben.
Bei Leipziger Gymnasiasten hing die morgendliche Leistungsfähigkeit am Montag nicht vom Chronotyp und auch nicht von der Uhrzeit des Schulbeginns ab. Die Schlafdauer am Wochenende und das Alter der Schüler hatten dagegen signifikante Einflüsse auf die Leistungsfähigkeit am Morgen. Die Gymnasiasten zogen für sich daraus den Schluss, dass zwei Feten am Wochenende zu viel sind.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Schlafmangel und Aggression oder ADHS?
Prof. Paditz: Hier gibt es viele Überlappungen, aber keine einfachen Kausalbeziehungen. Kinder mit Schlafdefizit und Kinder, die an Schlafstörungen leiden – z. B. an einer Insomnie oder an Alpträumen – sind oft aggressiver und zeigen oft Symptome einer ADHS. Ausreichend Schlaf sowie Psychohygiene auch in Bezug auf den Schlaf können einen Beitrag zur ganzheitlichen Behandlung bei ADHS-Symptomen leisten. Klar ist aber, dass die Schlafmedizin das Problem einer diagnostizierten ADHS nicht lösen, aber mildern kann.
Prof. Schlarb: Dennoch ist anzumerken, dass durchaus bei einem ernstzunehmenden Anteil an Kindern fälschlicherweise eine ADHS-Verdachtsdiagnose entsteht. Deshalb sollte auch nach nächtlichem Schnarchen, nächtlichem Schwitzen und Mundtrockenheit am Morgen gefragt werden.
5 Prozent aller Grundschüler berichten einmal wöchentlich über Alpträume. Welche Gründe werden dafür genannt?
Prof. Schlarb: Die Unruhe in Bezug auf bevorstehende Klassenarbeiten, Stress mit den Eltern, Geschwistern, Mitschülern oder dem Lehrer können bei manchen Kindern in Form von Alpträumen verarbeitet werden.
Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es hier?Prof. Paditz: Seitens der Kinderpsychologie werden einfache Interventionsmöglichkeiten angeboten, die auch in der Hand des niedergelassenen Kinderarztes mit geringem Zeitaufwand praktiziert werden können. Dazu gehört z. B. die Frage "Was träumst Du denn?", die mit dem Angebot verbunden wird, den Alptraum auf einem Blatt Papier zu zeichnen. Danach folgt die Frage "Was könntest Du tun, um das Gespenst zu vertreiben?". Die Kinder sollten ermuntert werden, im Wachzustand selbst eine individuelle Lösungsstrategie zu finden und diese in die Zeichnung zu integrieren und über die Effekte des so veränderten Traumes zu sprechen. Die Eltern sollten um Zurückhaltung gebeten werden, damit wirklich die eigene Idee des Kindes aufs Papier kommt. Abends kann das zu Hause nochmals vertieft werden. Auf diese Weise gelingt es oft, den Alptraum umzukodieren, sodass die Kinder beruhigt ein- und durchschlafen.
Welche weiteren interessanten Forschungsergebnisse zum Kinderschlaf gibt es aus Ihrer Sicht?
Prof. Paditz: Die Debatte um die Prävention des plötzlichen Säuglingstodes (SIDS) ist trotz der deutlichen Präventionserfolge weiterhin im Gange. Im Bestand der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel fanden sich unter 2.068 historischen Medizinbüchern 110 Titel zum Thema "schlaff". Darunter befinden sich 7 Bücher, die sich mit der Empfehlung der Rückenlage als Schlafposition für Säuglinge seit der Antike bis in die Neuzeit befassen. Da diese Titel mit mehr als 200 Auflagen und modifizierten Nachdrucken eine weite Verbreitung in 10 Sprachen gefunden haben, kann davon ausgegangen werden, dass seit Soranus von Ephesos (100 n. Chr.) bis ins 17. bzw. 19. Jahrhundert empfohlen wurde, Babys in Rückenlage zum Schlafen zu legen. Die Empfehlung der Bauchlage ab 1931 stellte damit einen tragischen Traditionsbruch dar.
Prof. Schlarb: Schlaf trägt wesentlich zur Konsolidierung von Gedächtnisinhalten bei. Inzwischen gibt es zahlreiche Untersuchungsergebnisse, die darauf hinweisen, in welchen Hirnarealen und in welchen Schlafstadien Informationen gespeichert und in das Langzeitgedächtnis eingebaut werden.
Interview: Angelika Leidner
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2016; 87 (4) Seite 264