Die Sozialpädiatrie in Deutschland trauert um Professor Richard Michaelis. Seine Wirkung in Entwicklungsfragen reicht weit über die Medizin hinaus.
Professor Dr. Richard Michaelis ist am 17. Januar 2017 im Alter von 85 Jahren verstorben. Er wurde am 30.05.1931 in Schwäbisch Hall als erstes von 5 Kindern einer Arztfamilie geboren. Sein schon früh erkennbares, breit gefächertes Interesse führte ihn zunächst zum Studium des Gartenbaus. Die weit über die medizinischen Themen hinausweisende Offenheit blieb sein Leben lang ein Quell der intellektuellen Beschäftigung.
Nach dem Medizinstudium in Freiburg, Tübingen und München absolvierte er seine Facharztausbildung, nach einem Abstecher in die Orthopädie, an der Universitätskinderklinik in Göttingen. Dort habilitierte er sich 1968 mit einem Thema über die Neurologie früh- und reifgeborener Kinder. Die Zeit von 1969 bis 1970 verbrachte Professor Michaelis mit der inzwischen gewachsenen eigenen Familie an der University of California in Los Angeles. Dort beschäftigte er sich intensiv mit Fragen der Neugeborenen-Neurologie und der kindlichen Entwicklungsbeurteilung. Themen, die von ihm in den nächsten Dekaden immer wieder – aus unterschiedlichsten Perspektiven – bearbeitet wurden.
In Tübingen ergab sich für ihn dann 1974 die Möglichkeit, eine Abteilung für Kinder mit Entwicklungsstörungen aufzubauen. Das dortige Säuglingsheim, später Frondsberghaus, wurde zu einem wichtigen Ausgangspunkt der Entwicklungsneurologie und später auch der Sozial- und Neuropädiatrie. 1985 wurden die Entwicklungsneurologie und die weiteren "neurologischen Disziplinen" der Universitätskinderklinik zu einer der ersten und größten eigenen Uni-Abteilungen zusammengefasst und Prof. Michaelis mit dem Lehrstuhl betraut.
Bis zu seiner Emeritierung und darüber hinaus machte er Tübingen zu einer der innovativsten und produktivsten Forschungs- und Behandlungsstätten für neurologisch beeinträchtigte und erkrankte Kinder. Im Frondsberghaus wurde interdisziplinäre sozialpädiatrische Arbeit schon umgesetzt, bevor es diesen offiziellen Begriff überhaupt gab. Kinderärztlich, psychologisch, therapeutisch und pflegend Tätige arbeiteten eng und wertschätzend unter einem Dach zusammen.
Reif- und Frühgeborene mit sogenannten Cerebralparesen bildeten einen Schwerpunkt der Arbeit. Dies mündete mit dem Aufkommen der modernen Bildgebung in das europäische CP-Projekt (SCPE: Surveillance of Cerebral Palsy in Europe unter Federführung von u. a. Frau Professor Dr. Krägeloh-Mann, der Nachfolgerin von Professor Michaelis).
Die kindliche Entwicklung blieb daneben weiter sein Thema. Das Konzept der "Grenz- bzw. Meilensteine", das aktuell zu den entwicklungsdiagnostischen Items weiterentwickelt wurde, ist mit seinem Namen verbunden. Im Zentrum steht das Verständnis von Entwicklung als einem offenen, adaptiven Prozess, der variabel verläuft. Dies bedingt das Postulat, Unterschiede in den Entwicklungsverläufen nicht primär als Pathologie anzusehen.
Die Wirkung von Professor Michaelis in Entwicklungsfragen reicht weit über die Medizin hinaus. Er konnte ebenfalls therapeutisch und pädagogisch Engagierte faszinieren und prägen und weit in Betroffenen-Kreise hinein wirken. In den von ihm hinterlassenen Publikationen lebt der Geist der individuellen Wertschätzung, der Humanität, aber auch des klaren Engagements für die Betroffenen und ihre Familien weiter.
Alle, die Professor Dr. Richard Michaelis kennengelernt haben, waren von seinem Charme, seiner menschlichen Wärme, seiner Offenheit, seiner differenzierten Art, auf Menschen zuzugehen und seiner Fähigkeit zur Analyse, Integration und Inspiration angetan.
Er war ein wundervoller Mensch und großer Lehrer. Wir haben ihm viel zu verdanken und teilen die Trauer mit seinen Angehörigen. In den vielen von ihm geprägten Menschen wirkt er weiter.
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (3) Seite 189