So könnte die Botschaft des diesjährigen Kongresses für Kinder- und Jugendmedizin in Mannheim aus den 100 Sitzungen und Workshops lauten: Die Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte werden sich in Zukunft ganz anderen Herausforderungen stellen müssen als heute. Digitalisierung, KI und Migrationsmedizin stehen hierfür Pate. Aber auch die längst bekannten Probleme werden sich so schnell nicht lösen lassen. Pädiatermangel, lange Wartezeiten etwa in SPZ oder auch zunehmend knappe Mittel als Folge von Einsparungen belasten Pädiaterinnen, Pädiater und betroffene Familien gleichermaßen. Wie sich diese Mängel insbesondere im sozialpädiatrischen Versorgungsalltag auswirken, zeigt der folgende Kongressbericht eindrücklich auf.
Das Dilemma wird immer offensichtlicher. Der bereits heute bestehende Mangel an Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzten wird sich in den kommenden Jahren weiter verschärften. Zudem mangelt es auch an anderen Fachkräften, die "am Kind" arbeiten.
Auf diese kurze Formel könnte man die politisch brisanteste Botschaft bringen, die vom Kongress für Kinder- und Jugendmedizin, der 2024 in Mannheim stattfand, in die Öffentlichkeit getragen wurde. Vor über 2.000 Kinder- und Jugendärzten führte Prof. Ursula Felderhoff-Müser, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), weiter aus, dass die Versorgungssituation bei den jungen "zu Pflegenden am Bett" besonders bedrückend sei.
Vielfältige Gründe für die Misere in der Pädiatrie
Prof. Thorsten Langer, Kongresspräsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ), führte für diese Misere eine Vielzahl von Gründen auf: Bessere Überlebenschancen schwerwiegend kranker Kinder, generell komplexere Krankheitsbilder, überlastete angrenzende Systeme wie etwa Frühförderstellen, mehr Kinder aus sozial belasteten Familien oder auch die anhaltende Migration. Besonders besorgniserregend sei es, dass sich der Fachkräftemangel noch massiv verschärfen werde, weil in gut 10 Jahren annähernd 30 Prozent aller Fachkräfte aus der Versorgung ausscheiden dürften.
"Kindergesundheit ist ein komplexes Puzzle"
Dabei würden Fachkräfte in der Pädiatrie dringender denn je benötigt, bekräftigte Prof. Michael Melter, Kongresspräsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Denn "Kindergesundheit ist wie ein komplexes Puzzle", die nicht als "isolierte Organmedizin" funktioniere. Vielmehr würden in der Kinder- und Jugendmedizin sämtliche Teile benötigt, um das Ganze zu erkennen. Dazu zählten die Forschung und das Wissen über die Entstehung von Krankheiten, gesundheitsfördernde Faktoren, individuelle Diagnostik, maßgeschneiderte Therapien sowie hochspezialisierte Expertise. All dies müsse zudem im engen Austausch mit dem betroffenen Kind und seiner Familie erfolgen. Außerdem müsse von der Politik endlich registriert werden, dass sich "Erkrankungen nicht an Sektorengrenzen halten". Diese Sektorengrenzen seien nicht nur überholt, sondern für die zu versorgenden Kinder "kontraproduktiv".
Dies treffe insbesondere für solche Themen zu, die bisher ein Schattendasein fristen. Prof. Michael Melter nannte hierfür beispielhaft die Migrationsmedizin im Kindes- und Jugendalter, die Kindersportmedizin bei Gesunden sowie die Kindeswohlgefährdung.
Volker Mall: "Wir sehen die Kinder zu spät"
Dabei steht auch zunehmend das gesundheitliche Wohl der knapp eine halbe Million kranker oder stark entwicklungsauffälliger Kinder und Jugendlicher zur Disposition, die für einen Termin in Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) derzeit unerträglich lange Wartezeiten von teilweise bis zu einem Jahr – in medizinisch nicht dringenden Fällen sogar bis zu 18 Monaten – in Kauf nehmen müssen, erklärte Prof. Volker Mall, Präsident der DGSPJ, in Mannheim. Für Mall hat das fatale Folgen: "Wir sehen viele Kinder in den SPZ viel zu spät, um noch rechtzeitig eine optimale Behandlung einleiten zu können". Betroffene Familien und die sie behandelnden – auch ambulant tätigen – Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte gerieten durch die dadurch versäumten Entwicklungschancen extrem unter Druck, bekräftigte der DGSPJ-Kongresspräsident Prof. Thorsten Langer. Denn die langen Wartezeiten, die sich aufgrund fehlender Behandlungsplätze und von zu wenig qualifiziertem Personal ergeben, führten dazu, dass vielen Familien die Zeit für eine frühzeitige erfolgversprechende Behandlung davonläuft.
Lange Wartezeiten mit fatalen Folgen
Zudem müssen deshalb viele betroffene Familien auf Mittel verzichten, die ihnen eigentlich zustehen würden. Langer machte dabei am Beispiel eines mittelgroßen SPZ folgende Rechnung auf: Von 4.000 Patientinnen und Patienten pro Jahr sind 25 Prozent Erstvorstellungen. Legt man eine Wartezeit von einem Jahr zugrunde, summieren sich die Wartezeiten für diese 1.000 Patientinnen und Patienten auf 1.000 Jahre. Wenn man zudem realistischerweise davon ausgeht, dass 300 von diesen 1.000 Kindern ein Pflegegrad 2 – und damit 332 Euro pro Monat – zustehen würde, wird allein diesen Kindern im Jahr ein Pflegegeld von rund einer Million Euro vorenthalten. Die langen Wartezeiten in einem SPZ haben also für die betroffenen Familien auch finanziell erhebliche Folgen.
Volker Mall sieht den Grund für den Mangel an Behandlungsplätzen insbesondere in den unzureichenden Finanzausstattungen. 3,5 Prozent aller Kinder und Jugendlichen werden in den bundesweit mehr als 160 SPZ multiprofessionell und interdisziplinär sozialpädiatrisch mitbehandelt und betreut. Dafür würden jedoch lediglich ca. 0,1 Prozent der Versichertenbeiträge aufgebracht. Dies sei politisch zwar erkannt und folgerichtig ist der Ausbau der SPZ im Koalitionsvertrag fest verankert. Jedoch seien dieser Absichtserklärung noch keine Taten gefolgt. Wie bei der Krankenhausfinanzierung sei zudem für die SPZ auch die Refinanzierung von Fixkosten bzw. Vorhaltekosten überfällig.
Das Kongressangebot erstreckte sich über mehrere Etagen: Symposien, Industrieausstellung, Gespräche etc.
Teilhabe von betroffenen Kindern massiv gefährdet
All diese Maßnahmen könnten auch dazu beitragen, die Chancenungleichheit, in der immer mehr Kinder aufwachsen, zu verringern. Dies bekräftigt auch Prof. Heidrun Thaiss, Präsidentin der DGSPJ. Soziale Ungleichheiten manifestierten sich bereits früh und hätten gravierende Auswirkungen auf den späteren Gesundheitsstatus und die Bildungschancen von Kindern und gefährdeten damit auch die politisch angestrebte gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe der betroffenen Kinder.
Diese Teilhabe wird immer häufiger auch durch die zunehmend restriktive Verordnung von Hilfsmitteln erschwert. Denn bei der Hilfsmittelversorgung im Kindes- und Jugendalter liegt vieles im Argen, weil immer mehr Anträge von den Kostenträgern abgelehnt werden. Deshalb haben in Mannheim beim Kongress Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte, Reha-Verbände und Reha-Hersteller sowie Elternverbände einen "Hilfsmittel-Aktionstag" ausgerufen. Dabei zeigten sie das derzeitige Dilemma eindrücklich auf.
Vielen Kindern werden Hilfsmittel vorenthalten
Bisher werden in der Regel alle Anträge auf Hilfsmittel vom Medizinischen Dienst (MD) der Krankenkassen geprüft. Dies führt zu einer aufwendigen und zeitintensiven Prüf- und Genehmigungspraxis, unter der gerade die Kinder leiden, die besonders auf ein Hilfsmittel angewiesen sind. Zudem würden zunehmend Anträge abgelehnt, kritisierte Christiana Hennemann, Geschäftsführerin von rehaKIND, einem Netzwerk von Leistungserbringern und Herstellern. Während im Jahr 2023 laut rehaKIND insgesamt 700 Anträge auf Hilfsmittel von den Kostenträgern abgelehnt wurden, waren es bis Juni 2024 bereits 920. Dies, so Hennemann, zeige, wie hoch der Kostendruck mittlerweile sei. Besonders fatal sei der Trend bei den Kommunikationshilfen, die immer seltener bewilligt würden.
SPZ hoffen auf Genehmigungsfiktion
Dr. Mona Dreesmann vom Aktionsbündnis bedarfsgerechte Heil- und Hilfsmittelversorgung und Leiterin des Arbeitskreises Hilfsmittel in der DGSPJ setzt daher nun stark auf eine Gesetzesänderung, die noch 2024 vom Bundestag verabschiedet werden soll. Danach soll ein Hilfsmittel künftig bereits dann erstattet werden, wenn sich der Antragsteller in regelmäßiger sozialpädiatrischer Behandlung in einem Sozialpädiatrischen Zentrum im Sinne des § 119 SGB V befindet und die beantragte Hilfsmittelversorgung von der dort tätigen behandelnden Ärztin oder dem Arzt konkret empfohlen wird. Der MD, so Dreesmann, wäre damit – was den medizinischen Teil der Verordnung betrifft – außen vor und könnte das Hilfsmittel für ein Kind nur noch dann ablehnen, wenn das weiter bestehende Wirtschaftlichkeitsgebot bei der Verordnung nicht eingehalten würde. Dreesmann hofft daher, dass diese sogenannte "Genehmigungsfiktion" für die mehr als 160 SPZ in Deutschland nun im Rahmen des Gesundheitsversorgungs-Stärkungsgesetzes ohne weitere Abstriche durchgewunken wird.
Forderung nach Spezialsprechstunden in der Sozialpädiatrie
Eine größere Flexibilität bei der Behandlung junger Patientinnen und Patienten in einem SPZ erhofft sich auch Dr. Dirk Schnabel von der Charité in Berlin. Er plädierte in Mannheim für eine Ermächtigung der SPZ hin zur vollen vertragsärztlichen Versorgung insbesondere für komplex chronisch kranke Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf.
In die gleiche Kerbe schlug auch Dr. Urania Kotzaeridou, Leiterin des SPZ an der Uniklinik Heidelberg. Auch sie sprach sich für Spezialsprechstunden für seltene Krankheiten in der Sozialpädiatrie aus, die als "hochspezialisiertes interdisziplinäres Angebot in Kooperation mit der Selbsthilfe und einer KI-gestützten Diagnostik" gut in den Zeitgeist passen würden.
Preisverleihung in Mannheim (v. l. n. r.): Prof. Volker Mall und Prof. Heidrun Thaiss (DGSPJ-Präsidenten), Dr. Anne Geweniger (Preisträgerin), Angelika Leidner (Redakteurin Kinderärztliche Praxis) und Stephan Kröck (Geschäftsführer der MedTriX GmbH Deutschland).
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Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2024; 95 (6) Seite 452-456