AD(H)S ist in aller Munde. Was ist dran an dieser Erkrankung? Dient sie nicht als Entschuldigung für fehlende Erziehung, Auflösung von Grenzen und Regeln sowie exzessiven Gebrauch digitaler Medien? Kann man sie auch ohne Medikamente behandeln? Antworten auf diese und weitere Fragen haben Dr. Helmut Peters, Kinder- und Jugendarzt, Neuropädiater und Neonatologe, und Dr. Sabine Müller-Löw, Ärztin, systemische Familientherapeutin und Supervisorin. Beide befassen sich seit Jahrzehnten mit der Diagnostik und Behandlung dieses Störungsbildes.

Ist AD(H)S nicht doch nur eine neue Modediagnose, die dazu benutzt wird, Erziehungsfehler in Familien, schlechte Schulleistungen und Verhaltensauffälligkeiten zu vertuschen?

Dr. Peters/Dr. Müller-Löw: AD(H)S, eine synaptische Wiederaufnahmestörung für den Botenstoff Dopamin, ist mit über 5% eine der häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen. Mindestens jeder Zwanzigste ist betroffen. Die Erkrankung ist genetisch und persistiert ins Erwachsenenalter. AD(H)S ist kein Erziehungsfehler.

Die Kernsymptome sind Störung der Konzentration und Merkfähigkeit, der Impulskontrolle, gegebenenfalls Hyperaktivität. Dies bedeutet für die betroffenen Kinder und Familien oft erhebliches Leid, wenn sie nicht behandelt werden. Sie bleiben wegen dieser Störung der Performance hinter ihren potenziellen Möglichkeiten zurück (Underachievement).

Diese Auffälligkeiten werden seit Langem beschrieben, früher als minimale cerebrale Dysfunktion (MCD) bezeichnet und nun als Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) benannt. Die Kernsymptome liegen bei den Patienten unterschiedlich ausgeprägt vor. Ist vornehmlich die Konzentrationsstörung betroffen, wird dies als Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) bezeichnet. Steht die Hyperaktivität im Vordergrund, wird die Bezeichnung Hyperaktivitätsstörung oder Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität (ADHS) verwendet. Beide Formen haben dieselbe Ätiologie, sodass beide Formen als Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit oder ohne Hyperaktivität (AD(H)S) zusammengefasst werden.

Dabei gibt es im Kindesalter geschlechtsspezifische Akzentuierungen: Die hyperaktive Form ADHS liegt häufiger bei Knaben vor. Mit zunehmendem Alter reduziert sich die äußere Hyperaktivität, die Patienten wirken äußerlich nicht mehr so hyperaktiv; allerdings internalisiert diese und bewirkt eine innere Getriebenheit, ein Chaos im Kopf.

Die älteste uns vorliegende Beschreibung dieses Symptomkomplexes erfolgte 1775 durch den Arzt Melchior Adam Weikard. Die wohl bekannteste Beschreibung dieser Erkrankung und ihrer Komorbiditäten dürfte der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann sein, der selbst betroffen war.

Wie wird diese Diagnose gestellt und gesichert?

Die Diagnose wird von Ärztinnen und Ärzten sowie Psychologinnen und Psychologen gestellt, die mit dem Störungsbild vertraut sind. Vorhandene Scores wie die ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases und Related Health Problems), DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) und CBCL (Child Behavior Checklist), unterstützen bei der Diagnose, ersetzen aber keinesfalls die Bewertung durch eine erfahrene Diagnostikerin oder einen erfahrenen Diagnostiker, denn häufig ist AD(H)S als Grunderkrankung von Komorbiditäten überlagert.

Beim Vorliegen von visuellen oder auditiven Wahrnehmungsstörungen, bei Teilleistungsstörungen (LRS, Dyskalkulie), Enuresis, Enkopresis, Delinquenz und erhöhtem Suchtverhalten, Auffälligkeiten der Komplex- und Feinmotorik, Migräne, Depression, Borderline und Essstörungen sollte immer abgeklärt werden, ob ein AD(H)S die Ursache ist.

Wie wird ein Kind mit AD(H)S behandelt? Geht es ohne Medikamente? Machen Medikamente süchtig? Verändern diese das Kind? Welche Alternativen gibt es?

Grundsätzlich gilt: Nur bei Leid wird behandelt. Und ob gelitten wird, entscheidet die Patientin bzw. der Patient und die Familie. Die Therapie basiert auf drei Säulen: Information über die Erkrankung, pädagogische Maßnahmen und Pharmakotherapie.

In einem ersten Schritt ist es wichtig, die Betroffenen und ihre Familien über das Krankheitsbild so zu informieren, dass alle verstehen, dass es sich um eine synaptische Wiederaufnahmestörung für den Botenstoff Dopamin handelt. So wird klar, dass es sich weder um böswilliges Verhalten, noch um einen Erziehungsfehler handelt.

In einem zweiten Schritt sollte überlegt werden, welche verhaltens- und familientherapeutischen Maßnahmen geeignet sind, den AD(H)S-Symptomen zu begegnen, um von der Abwärtsspirale zum Erfolg zu kommen. Sehr wichtig ist die Zusammenarbeit aller Beteiligten: Ärztinnen und Ärzte, Familie, Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer.

Wenn diese Maßnahmen nicht genügen, ist eine Pharmakotherapie angezeigt. Diese ist weltweit in Leitlinien gesichert und beschrieben. Die Mittel der ersten Wahl und Goldstandard sind die Stimulanzien Methylphenidat, Amphetamin und Lisdexamphetamin. Es liegen unzählige Studien vor. Seit der Erstzulassung in den 50er-Jahren sind lediglich zwei Fälle von DILI (drug-induced liver injury) beschrieben.

Als Mittel der zweiten Wahl sind Guanfacin und Atomoxetin zu nennen; Atomoxetin besonders dann, wenn emotionale Schwankungen im Vordergrund stehen. Die Medikamente verursachen keine Suchtgefahr.

Studien zeigen, dass das bei einer AD(H)S-Erkrankung beschriebene erhöhte Suchtpotenzial durch die Behandlung mit Stimulanzien bis zu 30 % gesenkt werden kann. Die Dosierung erfolgt schrittweise in Rücksprache mit Eltern, Patientinnen und Patienten sowie Lehrerinnen und Lehrern, um so die individuelle, optimale Dosierung zu ermitteln.

Ein ausgeprägtes AD(H)S ist ohne Pharmakotherapie nicht ausreichend behandelbar, die supportiven Maßnahmen können nicht greifen, unbehandelt besteht eine erhöhte Neigung zu Depressionen.

Welche Bedeutung hat ein AD(H)S für Jugendliche? Und wie geht es weiter, wenn sie erwachsen werden?

AD(H)S-relevante Themen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind:
  • Selbstorganisation und -versorgung nach Wegfall des familiären und schulischen Rahmens
  • Erhöhtes Auftreten von Unfällen, Ordnungswidrigkeiten, riskanter Fahrstil
  • Häufiges Abbrechen und Wechseln von Studium, Lehre und Beruf
  • Sucht
  • Ausschweifende Sexualität
  • Finanzen
  • Partnerschaft

Es muss sichergestellt sein, dass die Medikation weitergeführt wird und das Wissen und Verständnis bei den Behandlerinnen und Behandlern für diese Themen vorhanden sind. Nur ein Teil der AD(H)S-wirksamen Medikamente sind im Erwachsenenalter für gesetzlich Versicherte verordnungsfähig. Deshalb sollte von Seiten der Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte nach Möglichkeit auf diese Medikamente umgestellt werden, um den Transitionsprozess zu ermöglichen. Auch ist es wünschenswert, im Vorfeld mit dem/der Weiterbehandler/in in Kontakt zu treten. Die Transitionsthematik ist bisher sehr unzulänglich geklärt und gefährdet massiv die Versorgung dieser Patientinnen und Patienten.

Menschen mit AD(H)S sind warmherzig, kreativ, phantasievoll, risikofreudig, nicht nachtragend, spontan, beharrlich, energiegeladene, lustige und hilfsbereite Weggefährten in einer immer angepassteren Welt. Sie tragen, wenn sie gut in ihrer Kompetenz sind, zur Farbigkeit unserer Welt bei. Sie müssen diese Behandlung so erfahren, dies auch zeigen zu können. Das ist unsere Aufgabe als Behandlerinnen und Behandler.



Korrespondenzadresse
Dr. med. Sabine Müller-Löw

Dr. med. Helmut Peters

Kapellenstraße 9
55124 Mainz
Tel.: 0 61 35/46 67 65

Interessenkonflikt: Autor und Autorin geben an, dass keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (3) Seite 182-183