Der Psychiater Michael Winterhoff soll jahrelang Kinder mit Medikamenten ruhiggestellt haben. Die Kinderpsychiaterin Renate Schepker kritisiert Michael Winterhoffs Diagnosen.

Mit der Ausstrahlung des TV-Beitrages „Warum Kinder keine Tyrannen sind“ (verfügbar in der ARD-Mediathek bis August 2022) am 9.8.2021 hat Das Erste eine lebhafte und z. T. kontroverse Diskussion über die Arbeit des Bonner Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. Michael Winterhoff ausgelöst. Diese Diskussion wurde und wird in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Sozialpädiatrie und anderen Fachkreisen wie auch in der breiteren Öffentlichkeit geführt.

Wir von der Redaktion der Kinderärztlichen Praxis finden die Stellungnahme von Frau Professorin Dr. Renate Schepker, Mitglied des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, zu dieser Problematik besonders gelungen. Dieses Interview erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung am 21.8.2021, wir drucken es hier mit Genehmigung der Süddeutschen nach.

Im Interview:


Renate Schepker ist ist Professorin für Kinder- und Jugend­psychiatrie und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Nach den Recherchen von WDR und Süddeutscher Zeitung zum Kinderpsychiater und Buchautor Michael Winterhoff fordert sie eine umfangreiche Untersuchung.

Genehmigter Nachdruck: „Vulgäranalytische Einschätzung“, Rainer Stadler, SZ vom 21.08.2021

Die Lehre aus dem Fall Winterhoff lautet: Ein Kinderpsychiater kann eine eigene Diagnose erfinden und dann Medikamente mit schweren Nebenwirkungen schon kleinen Kindern jahrelang verschreiben, ohne dass ihn jemand daran hindert. Würden Sie zustimmen?
Renate Schepker:
Um solche Auswüchse zu verhindern, gibt es eigentlich das Standesrecht und Gesetze. Krankenkassen erstatten nur die Behandlung von Diagnosen, die die Weltgesundheitsorganisation anerkennt. Und Ärztekammern bieten kostenlose Schlichtungsstellen für Patienten an.

Trotzdem hat Michael Winterhoff über Jahre eine Diagnose gestellt, die sich in keinem offiziellen Verzeichnis findet: Entwicklungsretardierung im frühkindlichen Narzissmus verbunden mit Eltern-Kind-Symbiose.
Schepker:
Das ist keine korrekte Diagnose, sondern eine vulgäranalytische Einschätzung, die sich mit heutigen Therapiekonzepten nicht vereinbaren lässt.

Vielen seiner Patienten mit dieser Diagnose verordnete Winterhoff Pipamperon, ein Neuroleptikum mit sedierender Wirkung. Wie bewerten Sie das?
Schepker:
Wenn es die Diagnose tatsächlich gäbe: Man beeinflusst doch keine Eltern-Kind-Symbiose mit Beruhigungsmitteln. Und bei einer Entwicklungsverzögerung wäre ein dämpfendes Medikament ja genau falsch. Das Medikament hat seine Berechtigung bei expansivem und fremdgefährdendem Verhalten.

Also in Notfällen?
Schepker:
So wird es heute verwendet, auch in der Jugendhilfe. Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher es zum Beispiel nicht schafft, sich nach einem impulsiv-eruptiven Wutanfall wieder in den Griff zu bekommen, kann eine Dosis von 20 Milligramm angebracht sein. Wenn das nichts bewirkt, kann man nach 45 Minuten noch einmal dieselbe Dosis verabreichen. Schlimmstenfalls wird eventuell eine Krisenintervention in der Klinik notwendig. Aber das ist immer noch besser, als die Kinder dauerhaft zu sedieren.

Ehemalige Patienten von Winterhoff bezeugen, dass er ihnen wesentlich höhere Dosen verordnet hat – über Jahre.
Schepker:
Das ist in mehrerlei Hinsicht problematisch. Wer ein Medikament verschreibt, will damit ein bestimmtes Verhalten ändern. Das bedingt auch regelmäßige Kontrollen, besonders bei Kindern und Jugendlichen, die sich ja noch entwickeln. Regelmäßige Absetzversuche sind geboten, um zu sehen, ob das Medikament noch nötig ist. Was die Dosierung angeht: Es gilt, für jedes Kind die adäquate Dosis zu finden. Kinder unter zehn Jahren sollten nie mehr als ein Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht erhalten. Daran hat er sich nicht gehalten, wenn sich die Aussagen der Betroffenen bestätigen.

Winterhoff sagt, er habe die Kinder regelmäßig fachärztlich kontrolliert.
Schepker:
Dann muss er das nachweisen. Welches Verhalten, welche Symptome sollen mit der Gabe des Medikaments beeinflusst werden? Mit welcher Dosis? Wie wurde die Dosis verändert? Wann gab es Absetzversuche? Wie hat das Kind darauf reagiert? Treten Nebenwirkungen auf? All das muss genau dokumentiert werden – übrigens modernerweise in elektronischer Form und so, dass es nicht nachträglich manipuliert werden kann. Und die Patienten können diese Dokumentation auch einsehen.

Betroffene berichten, Winterhoff habe ihnen die Patientenakte erst auf wiederholte Nachfrage überlassen. In zwei Fällen musste sogar die Ärztekammer eingreifen.
Schepker:
Es handelt sich nicht um eine Gefälligkeit, die Patienten haben ein Recht auf diese Unterlagen. Das steht im Patientenrechtegesetz, das seit 2013 gilt.

Winterhoff argumentiert, er habe mit der Gabe von Pipamperon „bewusst keine Sedierung“ der Kinder und Jugendlichen angestrebt. Ist das möglich mit einem Mittel, dessen sedierende Wirkung sogar der Hersteller bestätigt?
Schepker:
Das kann bei einer Impulskontrollstörung funktionieren, wenn das Medikament in niedriger Dosierung und zeitlich begrenzt verabreicht wird. Das scheint aber, wenn die Zeugenaussagen zutreffen, in einigen Einrichtungen nicht der Fall gewesen zu sein. Sonst wären die Kinder ja nicht so sediert und müde gewesen, wie das Sorgeberechtigte und auch eine Erzieherin beschreiben. Es wäre deshalb zur Aufklärung erforderlich zu untersuchen, an wie viele Kinder Winterhoff das Medikament in welcher Dosierung verordnet hat.

Ist das Aufgabe Ihrer Fachgesellschaft?
Schepker:
Unsere Aufgabe ist es, Leitlinien und Standards für die Behandlung zu definieren. Daran sind die Ärzte zwar nicht zwingend gebunden, aber wer davon abweicht, muss das begründen können. Die Kontrolle der Ärzte ist Sache der Ärztekammern.

Mehrere Patienten von Winterhoff geben an, sie hätten sich an die Ärztekammer Nordrhein gewandt – vergeblich.
Schepker:
Dazu kann ich im Detail nichts sagen, weil ich die Vorgänge nicht kenne. Vorgesehen ist jedenfalls, dass die Beschwerden von einer Gutachterkommission genau untersucht werden. Diese Verfahren können sehr aufwendig für die betroffenen Ärzte sein. So kenne ich es jedenfalls aus Baden-Württemberg, wo ich selbst als Gutachterin involviert bin.

Wenn Betroffene ihren Arzt für eine Fehlbehandlung verantwortlich machen wollen, stehen sie vor dem Problem, dass Folgewirkungen oft erst Jahre später auftreten. Dann greifen die oft sehr kurzen Verjährungsfristen, der Arzt ist nicht mehr zu belangen.
Schepker:
Die kurzen Fristen halte ich auch für problematisch. Veränderungen wären aber möglich – wie beim sexuellen Missbrauch, wo sie jetzt unter dem Druck der Betroffenen gesetzlich verlängert wurden. Auch unsere Fachgesellschaft hatte sich dafür ausgesprochen.

Empfinden Sie es als rufschädigend, wenn ein Kinderpsychiater seine Patienten entgegen den Leitlinien behandelt?
Schepker:
Rufschädigend ist er schon seit Jahren, mit dem, was er in seinen Vorträgen als Kinderpsychiater verbreitet. Seine pädagogischen Grundüberzeugungen sind in keiner Weise wissenschaftlich fundiert und werden von der Fachgesellschaft nicht geteilt. Ich befürchte, dass durch die Diskussion um ihn unsere Arbeit generell in Misskredit gerät – auch bei Eltern und Einrichtungen, deren Kinder dringend auf kinderpsychiatrische Beratung angewiesen sind.


Interview: Rainer Stadler, Süddeutsche Zeitung

Zusätzliche Informationen zur Auseinandersetzung um Dr. M. Winterhoff


Anlaufstellen für Patienten

Zu kostenlosen Anlaufstellen für Patienten bei Beschwerden oder vermuteten Behandlungsfehlern gibt die Website gesund.bund.de des Bundesgesundheitsministeriums viele Hinweise.

Beratung vor der Einlegung einer Beschwerde bieten die unabhängige Patientenberatung Deutschland (UPD), zugänglich unter www.patientenberatung.de; mit Beratungsbüros in Berlin und den meisten Großstädten, oder die eigene gesetzliche Krankenkasse sowie die Patientenbeauftragten des Bundes (www.patientenbeauftragte.de) oder der Landesregierungen (Bayern, Berlin, Niedersachsen, NRW).

Kostenloses Einlegen von Beschwerden ist möglich bei den Landesärztekammern (bei vermuteten Problemen von Verstößen gegen die Berufsordnung oder die ärztliche Ethik v. a. von Niedergelassenen) oder bei der Krankenkasse bei vermuteten Verordnungsfehlern sowie bei den Kassenärztlichen Vereinigungen bei vermuteten Verstößen gegen vertragsärztliche Pflichten (z. B. Ablehnung einer Behandlung ohne hinreichenden Grund). Die Schlichtungsstellen oder Gutachterkommissionen der Landesärztekammern arbeiten mit Juristen und mit fachspezifischen Gutachtern.

Laut gut verständlicher Hinweise der Bundesärztekammer können Klagen vor der Zivilgerichtsbarkeit in 85 % der Fälle bei vorliegenden Gesundheitsschäden vermieden werden, wenn die Entscheidungen der Gutachterkommission bzw. Schlichtungsstelle von beiden Parteien akzeptiert wurden.

Patientenrechtegesetz

Das Patientenrechtegesetz regelt seit 2013 konkret das Recht auf umfassende Aufklärung über die gestellte Diagnose und die Therapie. "Umfassend" bedeutet, dass auch über Behandlungsalternativen gesprochen werden muss, und zwar in einer für Patienten verständlichen Form – bei Medikationen gilt dieses somit nicht nur für Off-Label-Anwendungen, sondern für jegliche Medikation. Der Patient muss die Unterlagen der Aufklärung ausgehändigt bekommen. Ein verständliches Informationsblatt "Patientenrechte im Klartext" ist verfügbar auf der Website des Bundesgesundheitsministeriums. Die Aufklärung muss in der Patientenakte dokumentiert sein.

Eine Patientenakte muss – unabhängig davon, ob es eine elektronische Dokumentation eines Behandlungsverlaufs oder eine handschriftliche ist – fälschungssicher sein. Laut Urteil des Bundesgerichtshofs, Az VI ZR 84/19 vom 27. 04. 2021, müssen nachträgliche Änderungen in einer elektronischen Dokumentation des Behandlungsverlaufs eines Patienten erkennbar sein.

„Einer elektronischen Dokumentation, die nachträgliche Änderungen entgegen § 630f Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB nicht erkennbar macht, kommt keine positive Indizwirkung dahingehend zu, dass die dokumentierte Maßnahme von dem Behandelnden tatsächlich getroffen worden ist.“ Änderungen und Berichtigungen in der Patientenakte sind nur zulässig, wenn neben dem ursprünglichen Inhalt erkennbar bleibt, wann sie vorgenommen worden sind (§ 630f Abs. 1 Satz 2 BGB). Dies ist auch für elektronisch geführte Patientenakten sicherzustellen (§ 630f Abs. 1 Satz 3 BGB).

Beratungsangebote der Fachverbände

Die Fachverbände weisen auf eigene Beratungsangebote hin: So haben die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), der Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland (BKJPP) und die Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BAG KJPP) ein Ombudsleutegremium eingerichtet. Der Ombudsmann der DGKJP ist über die Homepage per E-Mail sowie über die Geschäftsstelle erreichbar.


Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Renate Schepker
Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
ZfP Südwürttemberg
Weingartshofer Straße 2
88214 Ravensburg
Tel.: 07 51/76 01-23 23

Interessenkonflikt:
Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag besteht.

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (6) Seite 380-382