Leserbrief zu zwei Beiträgen zum Thema Adipositas - zum "Babeluga-Programm" und zur neuen Adipositas-Leitlinie.
Leserbrief zu den Beiträgen
"Adipositas bei Kindern und Jugendlichen: Checken Sie die Baustellen"
Birgit Jödicke und Susanna Wiegand, Kinderärztliche Praxis 2/2020, S. 99 – 103
"Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes- und Jugendalter …"
Harald Bode, Kinderärztliche Praxis 2/2020, S. 116 – 118
Die erfahrenen Autorinnen Susanna Wiegand und Birgit Jödicke sind aus meiner Sicht eine Garantie für eine sachliche Darstellung dieses an Fallgruben reichen Themas!
Aus der Arbeit in der medizinischen Kinder- und Jugendreha sehe ich Aspekte, die ich gerne stärker fokussieren möchte als hier in der Kürze dargestellt, weil es im Umgang mit Adipositas und dem Bemühen um bessere Gesundheit essenzielle Faktoren sind, nicht nur in der Genese, sondern m. E. vor allem als aufrechterhaltende Faktoren: Komorbiditäten und RESSOURCEN, subjektives Erleben, Interaktionen mit Peers und Erwachsenen, sozialer und kultureller Kontext. Dies ist relevant, weil (bezahlte!) fachliche Arbeit hierzu finanziert und eigentlich erst aufgebaut werden muss im Sinne einer vernetzten Struktur von Unterstützung über die "Krankenversorgung" hinaus, aber eng mit ihr vernetzt!
Ich denke, dass dies im Sinne der Autorinnen gesprochen ist, zumindest habe ich das erwähnte Programm "Babeluga" in dem Sinne immer bewundert. Ich gehe davon aus, dass wir da "auf einer Linie" sind, insbesondere bezüglich der Familienorientierung und Einbeziehung der unterschiedlichen Lebenswelten.
In ihrem Alltag ist für Kinder und Jugendliche besonders bedeutsam, dass sie oft Ausgrenzung und Mobbing und so eine verminderte Lebensqualität erleben. Das Klischee von "fröhlichen Dicken" ist abwertend bzgl. der seelischen Befunde: Depression (43 %), Angststörung (40 %), Somatisierungsstörung (15 %), Essstörung (17 %), z. B. unkontrollierte Essattacken mit und ohne selbstinduziertem Erbrechen: Bulimie und "binge eating".
Kinder aus Familien in sozial belasteter Situation (relative Armut, alleinerziehende Mütter) sind auch in Deutschland häufiger von Adipositas betroffen als Kinder sozial "besser gestellter" Familien. Bei 14- bis 17-Jährigen aus Familien mit sozialer Belastung ist Adipositas mit 14 % fast dreimal so häufig wie bei Familien mit hohen Ressourcen. Kinder und Jugendliche, z. B. mit Migrationshintergrund, sind häufiger betroffen, am häufigsten Mädchen und Jungen aus der Türkei, Mädchen aus Mittel- und Südeuropa sowie Jungen aus Polen. Im Jugendalter scheint der Migrationshintergrund wieder an Einfluss zu verlieren! Auch potenzielle Risikofaktoren (Übergewicht der Eltern, hoher Medienkonsum und geringere körperliche Aktivität als Ausdruck eines inaktiveren Lebensstils) sind bei Migrationshintergrund der Familien häufiger, evtl. weil sie mehr zu bewältigen haben und nicht, weil sie weniger fähig sind.
Neben individualmedizinischer Arbeit braucht es Public-Health-Konzepte bis hin zu einer Wertediskussion (Aktivität/ Passivität, Inklusion, nicht nur Leistung, sondern Anstrengungsfreude, kooperative Strukturen in der Gemeinde usw.).
Auf der Website der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindesalter (AGA; https://aga.adipositas-gesellschaft.de/index.php?id=320, zit. n. M. Wabitsch 2004) hat die AGA es, beginnend mit ihrer Abbildung 1 "Kausale Faktoren der Adipositas", sehr konkret benannt: Dass es eben nicht nur um individuelles(!) Ernährungs- und Bewegungsverhalten betroffener Kinder und Jugendlicher geht, das eben möglichst früh geschult werden soll, sondern auch um den Kontext, also das Verhalten und Verstehen/Verständnis von Eltern, Peers/Freunden und Nachbarschaft, Wohnsituation und soziale "Einbettung" – sowie um Werte, Anstrengungsfreude und Selbstmanagement. Die Überschriften dieser Abbildung benennen wesentliche Faktoren, die auf verschiedenen sozialen Strukturebenen wirksam sind in der Ausbildung des kindlichen Verhaltens (bahnend oder als aufrechterhaltende Faktoren). Auch das Thema Stigmatisierung als "Bahnen" und als "aufrechterhaltender Faktor" muss über das Verhalten des Kindes hinaus bedacht werden.
Das am weitesten verbreitete fachliche Ziel ist laut AGA immer noch die Beeinflussung des individuellen Verhaltens. Hier werden aber wesentliche Faktoren benannt, "die das individuelle Verhalten prägen und die Vorstellung individueller, freier Willensentscheidung in Nahrungsauswahl und Energieverbrauch (nach Zusammenfassung dieser Autoren) in Frage stellen."
Wirklich jeder Lebensbereich wird nach heutiger Kenntnis beeinflusst durch übergeordnete Faktoren: Beispielsweise ist Schule nicht nur "Lernort", sondern auch ein wichtiger Lebensbereich, in dem Nahrungsmittelauswahl und körperliche Aktivität junger Menschen durch Erleben(!) gebahnt – und somit verändert werden können. Dieses Potenzial wird häufig aber noch nicht genutzt, da Gemeinschaftserleben bzw. "Gesundheitsthemen" oft noch als zweitrangig angesehen werden.
Sehr wichtig ist in dem Zusammenhang der Hinweis auf die in dem Sinne verbesserte Überarbeitung der Leitlinie. Herr Bode hat es auf den Punkt gebracht, "dass diese Erkrankung ein typisch sozialpädiatrisches mehrdimensionales Vorgehen im Langzeitverlauf erfordert" und dass neben Maßnahmen mit Bezug auf das einzelne Kind und seine Familie der Verhältnisprävention in der Lebenswelt des Kindes entscheidende Bedeutung zukommt.
Noch zu wenig Kommunikation und Vernetzung
In der Kinder- und Jugendreha gibt es zumindest beim wichtigsten Rehaträger "Deutsche Rentenversicherung" seit 2 – 3 Jahren den Begriff "Familienorientierung", der hier den Blick auf das öffnet, was dem Kind in diesem Sinne Möglichkeiten bahnt oder es ausbremst. Damit kommt es auch bereits zu mehr Mitaufnahme von Reha-Begleitpersonen, aber noch nicht zum notwendigen Einsatz beispielweise evaluierter Fragebögen zur Klärung, welche Kompetenzen Kinder und Eltern bisher schon entwickelt haben oder von Aspekten der Teilhabe des Kindes (z. B. CASP) oder Berücksichtigung eines personellen Bedarfs für diese Arbeit.
Es bleibt somit bisher der Initiative der zu Hause begleitenden Fachkräfte überlassen, ermutigende und partizipative Unterstützung – zumeist immer noch über die Mütter – aufzubauen. Hilfreiche konkrete Adressen vor Ort kann eine Fachambulanz/Klinik aber in der Regel nicht mitgeben, z. B. für eine fachlich geleitete Adipositasgruppe und geeignete Bewegungsgruppe oder für ein notwendiges Rückfallmanagement: Nicht selten gibt es diese Adressen gar nicht in erreichbarer Nähe! Das ist kein Fehler des einzelnen Adipositasteams, eher des aktuellen Hilfesystems, das nicht zuletzt wirtschaftlich noch viel zu wenig auf Vernetzung und Kooperation ausgerichtet ist.
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (4) Seite 240-241