Die Kinder, deren Schreie man nicht hört, sind immer noch die ersten Opfer. Ihre Traumata tragen Wut und Gewalt weiter. Dehalb darf man einen wichtigen Gedenktag dieses Jahr nicht unbeachtet vorübergehen lassen, findet KInderarzt Dr. Stephan Nolte.

In diesem Jahr darf ein wichtiger Gedenktag nicht unbeachtet vorübergehen: Vor 100 Jahren, am 26. September 1924, verabschiedete der Völkerbund auf Betreiben der International Save the Children Union, die die Schwestern Eglantyne Jebb (1876 – 1928) und Dorothy Buxton (1881 – 1963) nach den Schrecken des ersten Weltkrieges gegründet hatten, die "Genfer Erklärung".

In der "Genfer Erklärung" wurden zum ersten Mal die besonderen Rechte der Kinder in 5 knappen Artikeln formuliert:

  1. Das Kind soll in der Lage sein, sich sowohl in materieller wie in geistiger Hinsicht in natürlicher Weise zu entwickeln.
  2. Das hungernde Kind soll ernährt, das kranke Kind gepflegt werden; das zurückgebliebene Kind soll ermuntert, das verirrte Kind auf den guten Weg geführt werden. Verwaiste und verlassene Kinder sollen aufgenommen und unterstützt werden.
  3. In Notzeiten soll den Kindern zuerst Hilfe zukommen.
  4. Kinder sollen in die Lage versetzt werden, den Lebensunterhalt zu verdienen und gegen jede Ausbeutung geschützt werden.
  5. Das Kind soll in dem Geiste erzogen werden, seine besten Kräfte in den Dienst seiner Mitmenschen zu stellen.

Das als Kriegsschuldiger geächtete Deutschland konnte nach dem 1. Weltkrieg erst 1926 Mitglied des Völkerbundes werden, ein Zeichen für die internationale Anerkennung der Weimarer Republik. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erklärte das Deutsche Reich am 14. Oktober 1933 jedoch seinen Austritt aus dem Völkerbund. Trotz dieser Kündigung und trotz der Weigerung vieler anderer Länder, die Genfer Erklärung in die nationale Gesetzgebung zu übernehmen, ist sie das erste internationale Dokument, das sich speziell mit den Kinderrechten befasst.

Nach dem 2. Weltkrieg ging die Genfer Erklärung zunächst in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 unter. Am 20. November 1959 wurde jedoch dann wieder explizit eine Kinderrechtserklärung verabschiedet. Seitdem wird der 20. November als Tag der Kinderrechte gefeiert. 1978 wurde von der VR Polen der Entwurf einer Kinderrechtskonvention vorgelegt, der die Grundlage für die endgültigen Fassung der Konvention über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) bildete. UNICEF und nichtstaatliche internationale Organisationen waren maßgeblich daran beteiligt.

Am 20. November 1989 wurde das Übereinkommen über die Rechte des Kindes, die "UN-Kinderrechtskonvention", von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen und am 2. September 1990 in Kraft gesetzt. Alle Staaten der Welt haben das Übereinkommen unterzeichnet und mit Ausnahme der USA ratifiziert. Der Grund für die Weigerung der USA ist unter anderem der Kindersoldaten-Paragraf, da in den USA Jugendliche an den Militärakademien ausgebildet werden.

Was trotz all dieser Bemühungen mit Kindern während des Nationalsozialismus und der deutschen Angriffskriege insbesondere in Osteuropa geschah, ist zwar bekannt, darf aber nicht vergessen werden. Viel schlimmer ist jedoch, dass sich bis heute ungeachtet politischer Beteuerungen für Kinder nicht viel geändert hat, denkt man an die Kriege in Syrien, in Gaza, oder an den russisch-ukrainischen Krieg. Die Kinder, deren Hilfeschrei man nicht hört, sind immer noch die ersten Opfer, und deren Traumata tragen bis heute Wut, Aggression und Gewalt weiter.

Autor:
© Angelika Zinzow
Dr. med. Stephan H. Nolte
Marburg/Lahn



Zur Person:
Dr. med. Stephan Heinrich Nolte war 30 Jahre in Marburg als ­Kinder- und Jugendarzt niedergelassen, ist Lehrbeauftragter an der Uni­versität Marburg, Fachjournalist und Buchautor. Er hat 5 Kinder und 10 ­Enkelkinder.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2024; 95 (4) Seite 246