Ende 2022 waren Kinderkliniken und Kinderarztpraxen am und über dem Limit. Hat sich die Lage wieder normalisiert? Wie ist die aktuelle Situation, welche Maßnahmen sind geplant und was ist Ende 2023 zu erwarten? Eine Einschätzung von Professor Dr. Jörg Dötsch, Köln.

Im Interview:
Professor Dr. Jörg Dötsch ist Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik Köln, seit 2021 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und seit 2022 Mitglied der ­Regierungskommission Krankenhausversorgung.

Kinderärztliche Praxis: Corona, Influenza und Co: Ende letzten Jahres gab es viele Berichte über Kinderkliniken, die keine Patientinnen und Patienten mehr aufnehmen konnten. Auch die Praxen waren mehr als voll. Hat sich die Lage zwischenzeitlich normalisiert?

Prof. Dr. Dötsch: Die Situation war in den letzten beiden Monaten 2022 sehr angespannt, weil es unglaublich viele Kinder mit Infekten gab, die sehr lange gewartet haben, verlegt werden mussten und elektive Eingriffe verschoben werden mussten. Die Situation hat sich insofern entspannt, dass sich die Infektwellen abgeschwächt haben – Influenza, Corona, RSV und andere Viren sind deutlich zurückgegangen. Das Problem ist, dass wir jetzt versuchen müssen, die ganzen verschobenen ­elektiven Eingriffe nachzuholen. Insofern sind die Kinderkliniken nach wie vor sehr voll. Die Situation in den Kliniken hat sich also etwas entspannt, aber noch nicht normalisiert.

Welche Viren haben den Kindern am meisten Probleme bereitet?

Prof. Dr. Dötsch: Corona war nicht das Hauptproblem. Anfang des Herbstes war es RSV, in der zweiten Phase dann Influenza. Etwas Ruhe in das Geschehen haben schließlich die Weihnachtsferien gebracht. Denn anders als bei den ersten Corona-­Varianten, bei denen sich die Kinder weniger gegenseitig angesteckt haben, sind Influenza und RSV Erreger, die sich typischerweise bei Kindern leichter ausbreiten. Es ist durchaus denkbar, dass das jetzt wieder etwas anzieht.

»Drei Faktoren zusammen haben ­dazu geführt, dass die Systemkapazitäten im letzten Herbst/Winter überschritten wurden.«

Zu wenige Kapazitäten, zu viele Patientinnen und Patienten und zunehmend besorgte, zum Teil sehr aggressive Eltern. Wie geht man als Ärztin oder Arzt damit um?

Prof. Dr. Dötsch: Das ist wirklich eine sehr schwierige Situation. Das Personal arbeitet in solchen Situationen mit einem hohen Stresslevel und wenn dann noch die Eltern versuchen, die Situation zu eskalieren, kann hier schnell eine bedrohliche ­Situation entstehen. Durch Deeskalationstrainings versuchen wir, die Ärzteschaft und Pflegenden darauf vorzubereiten. Gleichzeitig haben wir uns bemüht, Eltern und Öffentlichkeit gut zu informieren – vorab in der Presse und direkt vor Ort. Wenn das alles nicht reicht, ist es manchmal nötig, den Sicherheitsdienst oder eben die Polizei zu rufen. Ein solcher Fall ist natürlich eine extreme Zusatzbelastung für das Personal.

Aber wir leben in einer Zeit, in der man im Umgang mit Institutionen nicht mehr so zurückhaltend ist wie früher, wie auch die Nachrichten aus der Silvesternacht zeigen. Auch die Gewaltbereitschaft gegenüber Ärztinnen, Ärzten und Pflegepersonal nimmt leider schon seit einiger Zeit zu. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das sicher auch nur gesamtgesellschaftlich zu lösen sein wird.

Wie konnte es überhaupt zu diesen Engpässen in der Versorgung von Kindern kommen?

Prof. Dr. Dötsch: Hier kommen drei Faktoren zusammen:

  1. Wir hatten über die letzten 25 Jahre einen Bettenabbau in den Kinderkliniken um 40 %, verbunden mit Klinikschließungen. Und das, obwohl seit 2010 die Geburtenzahlen insgesamt um 20 % gestiegen sind.

  2. Die Zahl der betreibbaren Betten ist insbesondere in den letzten beiden Jahren stark abgesunken, da Pflegefachpersonen fehlen.

  3. Sich überlagernde Infektwellen verschiedener Erreger im Herbst/Winter.

Diese drei Faktoren zusammen haben dann dazu geführt, dass die Systemkapazitäten überschritten wurden.

Welche Bedeutung hat die ambulante Notfallmedizin für die Organisation in den Kinderkliniken und Praxen?

Prof. Dr. Dötsch: Wichtig ist, dass die Kliniken hier gemeinsam mit den niedergelassenen Kinderärztinnen und Kinderärzten vorgehen, was in der Regel auch sehr gut funktioniert. Derzeit leidet aber der niedergelassene Sektor genau unter den gleichen Problemen wie der stationäre: Nachwuchsprobleme, medizinische Fach­angestellte fehlen, Be- und Überlastung durch starke Infektwellen. Wenn also sowohl der stationäre als auch der ambulante Bereich über seine Belastungsschwelle geht, führt das dazu, dass auch die ambulanten Möglichkeiten, die in den Kliniken angeboten werden, das nicht mehr ausgleichen können.

Die Kliniken haben für die ambulante Notfallversorgung bisher keine Struktur und können diese bei Unterfinanzierung auch nicht aufbauen. Das dort eingesetzte Personal fehlt dann an anderen Stellen.

Was hat man aus den Versorgungsengpässen gelernt? Was wird derzeit unternommen, damit diese Situation nicht im nächsten Herbst/Winter wieder eintritt?

Prof. Dr. Dötsch: Sowohl im ambulanten als auch im stationären Sektor müssen Verbesserungen erfolgen. Für die ambulant tätigen Kinderärztinnen und -ärzte ist gerade eine zusätzliche Vergütung im Gespräch und und es wird intensiv an einer Entbudgetierung gearbeitet. Mit dieser Entbudgetierung könnte es auch attraktiver werden, zusätzliches Personal einzustellen, das dann auch bezahlt werden könnte.

Wir müssen auch grundsätzlich überlegen, wie wir es für junge Ärztinnen und Ärzte attraktiver machen, in unterversorgten, ländlichen Bereichen zu arbeiten, Praxen zu übernehmen. Es bleibt zu hoffen, dass die Kinderarztpraxen es schließlich leisten können, mehr Patientinnen und Patienten zu versorgen, sodass diese gar nicht erst in die Kliniken kommen.

Der erste Punkt, der für den stationären Bereich erreicht wurde, ist die Unterstützung von Kinderkliniken, die in Not gekommen sind. Hier wurde im Dezember 2022 ein Sonderfonds in Höhe von 270 Millionen Euro pro Jahr für die nächsten zwei Jahre beschlossen – also in Summe 540 Millionen. Das ist aber nur ein Einfrieren der Situation auf niedrigem Niveau.

Es wird entscheidend sein, zusätz­liches Fachpersonal zu gewinnen. Und wir müssen überlegen, was man tagesstationär oder ambulant machen kann – bei guter Finanzierung. Man müsste also die Kliniken besser finanzieren, damit die Teams so aufgestellt werden können, dass die Arbeitsbedingungen attraktiv sind und Pflegepersonal gerne wieder in den Beruf zurückkehrt.

All diese Maßnahmen müssten wir schnell angehen, denn die Gefahr, dass wir 2023 dieselbe Situation haben, ist erheblich.

»All diese Maßnahmen müssten wir schnell angehen, denn die Gefahr, dass wir 2023 dieselbe Situation haben, ist erheblich.«

Wie können sich Praxen und Kliniken aus eigenen Möglichkeiten heraus für die nächste Saison wappnen?

Prof. Dr. Dötsch: Die Bevölkerung muss weiterhin gut informiert werden, dass schwerkranke Kinder auf jeden Fall behandelt werden, dass es aber auch jederzeit zu Wartezeiten kommen kann.

Außerdem könnte man versuchen, die Strukturen möglichst schon vorzubereiten, die uns helfen können, die ein oder andere stationäre Maßnahme in den ambulanten Bereich zu verlegen. Dann kann man direkt loslegen, wenn die Finanzierung kommt. Letztendlich wird es aber doch so sein, dass es erst gewisse Zusagen der Politik braucht, bevor man konkrete Maßnahmen in die Wege leitet.

Welche Rolle spielt in dieser Situation die geplante Krankenhausreform?

Prof. Dr. Dötsch: Die spielt ganz sicher eine Rolle. Die erste Stellungnahme der Regierungskommission hat schon dazu geführt, dass für die Kliniken die erwähnten 270 Millionen Euro pro Jahr für die nächsten zwei Jahre eingesetzt werden. Die zweite Stellungnahme ermöglicht mehr tagesstationäre Behandlungen. Und die dritte Stellungnahme bringt zum Ausdruck, dass bis zu 20 % mehr für die Finanzierung der Pädiatrie nötig ist. Sie schlägt zudem ein System vor, bei der die Vorhaltekostenfinanzierung in Teilen das DRG-System ersetzt. Auch das ist vorteilhaft für die Pädiatrie. Die Pädiatrie ist innerhalb der Krankenhauskommission ein ganz wichtiges Thema. Das Gute und Wichtige ist, dass alle erkannt haben, wie angespannt die Situation in der Pädiatrie gerade ist und dass dringend etwas getan werden muss.

Wie sieht Ihre Prognose aus für den nächsten Herbst/Winter?

Prof. Dr. Dötsch: Ich glaube nicht, dass wir aus allem raus sein werden. Ein Problem, das über 25 bis 30 Jahre entstanden ist, ist nicht innerhalb dieser kurzen Zeit zu lösen. Die Bevölkerung muss darauf vorbereitet werden, dass es wieder Probleme geben könnte.

Man muss versuchen, an verschiedenen Hebeln gleichzeitig anzusetzen. Es wird also ein ganzer Katalog von Maßnahmen sein, mit dem wir arbeiten müssen.

Herr Professor Dötsch, vielen Dank für das Gespräch.


Interview: Angelika Leidner

(Stand: Februar 2023)

Hinweis
Vorab online publiziert am 08.02.2023.

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2023; 94 (2) Seite 90-92