Vor Kurzem ist unter dem Titel "Familien leben – Wie Kinder und Eltern gemeinsam wachsen" ein in sozialpädiatrischer Hinsicht ganz besonderes Buch erschienen. Autoren sind Prof. Dr. Hannsjörg Bachmann und seine Tochter Dr. Eva-Mareile Bachmann. Was macht dieses Buch nun so besonders?
Dr. Ulrike Horacek: Wie kam es zu diesem gemeinsamen Buchvorhaben von Vater und Tochter?
Prof. Dr. HJ Bachmann: Dass es nicht immer reicht, hochmotiviert und begeistert in die Familienphase zu starten, ist mir aus meiner eigenen Erfahrung und aus meinem Beruf als Kinder- und Jugendarzt gut bekannt. Die Idee, (werdende) Eltern beim Aufbau gesunder seelischer Familienstrukturen zu inspirieren, begleitet mich daher schon viele Jahre.
Unsere gemeinsam erlebten zwei "Zwillings-Phasen" wurden dann zur Basis für die Vater-Tochter-Schreibwerkstatt. Es erschien uns reizvoll, die unterschiedlichen beruflichen Erfahrungen und Lebensperspektiven (Frau/Mann – Tochter/Vater/Großvater – 2 Generationen) in das Buch einzubringen. Es bedurfte der gemeinsamen Reflexion der eigenen Familiengeschichten und vieler Dialoge.
Dr. E-M. Bachmann: Als werdende Mutter hätte ich damals selbst gerne auf EIN Buch – ein Überblickswerk – zurückgegriffen, das alles Wichtige aus der Familienphase zusammenbindet, und das sich auch im Alltagsstress einfach mal zwischendurch zur Hand nehmen lässt.
Eltern-Ratgeber-Literatur gibt es heute ja zuhauf. Können Sie kurz beschreiben, worum es in Ihrem Buch geht, und was das Besondere Ihres Buchs ist? Was unterscheidet Ihr Buch von anderen?
In unserem Buch geht es auch um Erziehung, aber nur ganz am Rande (als ein Aspekt von vielen). Im Fokus steht die Familie mit allen ihren Bezügen, und wie Eltern dafür sorgen können, dass sich Erwachsene und Kinder in ihrer Familie wohlfühlen – auch langfristig.
Wir haben den Versuch unternommen, in diesem Grundlagenbuch das Expertenwissen darzustellen und zu bündeln, das für das "Gelingen von Familie" von Bedeutung ist: Bewährtes und Neues aus ganz unterschiedlichen Disziplinen, aktuell und wissenschaftlich fundiert, zugleich gut verständlich und alltagstauglich. Zu jedem Thema gibt es konkrete Tipps, Beispiele und Dialoge, die dazu beitragen sollen, das theoretische Wissen auch im Familienalltag umzusetzen.
Im Zentrum stehen nicht allein das Kind und die Eltern-Kind-Beziehung, sondern ebenso auch das Paar, die Familienbeziehungen und -atmosphäre sowie die für die individuelle Familie passenden Rahmenbedingungen (Umfang der Berufstätigkeiten, Zeit- und Energieressourcen, Art der Kinderbetreuung). Unser Wunsch war es, aus Expertenwissen Elternwissen zu machen – leicht zugänglich für alle Interessierten.
Gedacht ist dieses Buch vor allem für werdende Eltern und Eltern in jungen Familien, für Elternpaare und für alleinerziehende Eltern. Aus den Feedbacks wissen wir, dass aber auch erfahrene Eltern, Großeltern und Fachleute (Erzieherinnen und Erzieher, Ärzte, Pädagogen, Therapeuten etc.) gerne auf dieses Buch zurückgreifen.
Viele Sozialpädiater werden an diesem Punkt teils skeptisch, teils resigniert einwenden, dass Bücher dieser Art und dieses Umfangs breite Teile der Bevölkerung gar nicht erreichen werden …
Das ist so. Keine Frage. Dieses Buch werden nur die Personen in die Hand nehmen und lesen, die Freude an Büchern haben.
Eltern, die derartige Bücher nicht lesen, brauchen andere Zugänge zu diesem Grundlagenwissen. Das geht nicht ohne engagierte und begeisterte "Übersetzerinnen und Übersetzer". Diese sollten die Fähigkeit haben, die Inhalte so zu vermitteln, dass sie für die jeweilige Zielgruppe passen. Variabel in der Form, identisch in den zentralen Themen. Alle werdenden Eltern (privilegiert oder sozial benachteiligt) sollten so früh wie möglich mit diesen Themen in Kontakt kommen – am besten ab der Schwangerschaft. Von unschätzbarem Wert ist es, wenn beide Partner schon zu Beginn ihrer Beziehung herausfinden, wie sie dafür sorgen können, dass ihre Paarbeziehung stabil bleibt, eine respekt- und vertrauensvolle Familienatmosphäre entsteht und ihre Kinder seelisch gesund heranwachsen. Es ist ein großes Plus für das gesamte Leben, wenn die grundlegenden familiären, persönlichen und sozialen Schutzfaktoren für "seelische Gesundheit" in diesen bedeutsamen ersten Familienjahren aufgebaut werden.
Können Sie Beispiele für solche "Übersetzungen" nennen?
STEEP: Besonders gut untersucht ist STEEP (steps toward effective and enjoyable parenting) – ein Präventions-/Interventionsprogramm für werdende Eltern, das bindungs- und beziehungsorientiert "arbeitet". Zielgruppe sind Eltern/Mütter mit ausgeprägter sozialer Benachteiligung. Das Programm beginnt in der Schwangerschaft; die Eltern werden in den ersten 3 Lebensjahren ihrer Kinder professionell begleitet. Durch verschiedene, auch videobasierte Maßnahmen wird die Bindungsentwicklung zwischen Eltern und Kind optimal gefördert.
Familienwerkstatt im Landkreis Verden e. V.: Zusammen mit anderen Fachleuten habe ich (HJ Bachmann) 2016 im Landkreis Verden ein Präventionsprojekt für werdende Eltern initiiert. Unsere "Familienvorbereitungskurse" (www.familienwerkstatt-verden.de) richten sich an werdende Elternpaare und alleinerziehende Eltern aus allen Bereichen unserer Gesellschaft. Essenziell ist für uns, dass wir die Eltern schon vor/bald nach der Geburt erreichen, und dass beide Partner an den Kurstreffen um die Geburt herum und im ersten Lebensjahr teilnehmen. Unabhängig von sozialer Schicht oder Einkommensverhältnissen finden sich in den Kursen mehrheitlich Eltern mit einem weiten Spektrum an Risikofaktoren, die sie aus ihren Ursprungsfamilien mitbringen (z. B. Bindungs-/Beziehungsarmut, Gewalterfahrungen, Sucht, psychischer Erkrankung, Trennungen, emotionale Instabilität ...). In aller Regel profitieren die Eltern von dem Mix aus Wissensvermittlung, Paargespräch, persönlichem Austausch sowie von den durch die Elterngruppen entstehenden unterstützenden Beziehungsnetzwerken. Zudem bieten wir Weiterbildung/Supervision für Kitas an, um Erzieherinnen und Erzieher adäquat zu schulen und so vermehrt auch Eltern in sozialen Brennpunkten zu erreichen.
U null? Bislang nur ein Traum ist die Idee, die Themen der "Familienvorbereitungskurse" als Inhalt einer neu zu etablierenden (vorgeburtlichen) kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchung (U null) zu verankern.
Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrem Buch?
Wir möchten werdende Eltern dabei unterstützen, ihr Familienleben so zu gestalten, dass es allen Beteiligten langfristig gut geht, d. h., dass …- aus den Ursprungsfamilien resultierende Risikofaktoren/Defizite rechtzeitig erkannt werden,
- Eltern von Beginn an gemeinsam die Verantwortung für ihre Familie übernehmen,
- Kinder in Folge der verbesserten Elternkompetenz die Ressourcen erwerben, die sie für ein gelingendes Leben benötigen (v. a. sichere emotionale Bindung, Selbst(wert)gefühl, innerpsychische Stabilität, Umgang mit Gefühlen/Konflikten, Empathie, Impulskontrolle, Sprachfähigkeit),
- Risikogruppen von Beginn an vertrauensvolle Ansprechpartner haben,
- unterstützende Beziehungsnetzwerke entstehen,
- und so familiäre, persönliche und soziale Schutzfaktoren aufgebaut werden, die lebenslang die Resilienz gegenüber Risikofaktoren aller Art stärken.
Herr Bachmann, jetzt sind Sie gerade zum dritten Mal Großvater von Zwillingen geworden. Da drängt sich doch ein weiteres gemeinsames Familien-Schreibprojekt zum Thema "Zwillinge" geradezu auf?
(lacht) Das ist eine interessante Idee, aber ich denke, dafür wird sobald keine Zeit vorhanden sein. Meine Frau und ich verbringen aktuell viel Zeit in der Großfamilie. Und das wird wohl vorerst so bleiben. Aber man weiß ja nie ….
Die Fragen stellte die Recklinghausener Sozialpädiaterin Dr. Ulrike Horacek,
Vorstandsmitglied in der DGSPJ.
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (1) Seite 54-55