Zum 70. Todestag von Gustav Tugendreich (1876 – 1948): Erinnerungen an den jüdischen Kinderarzt, der 1931 von der deutschen Reichsregierung als eine der bedeutendsten ärztlichen Persönlichkeiten der vorangegangenen 100 Jahre geehrt wurde - und wenig später aus Deutschland verstoßen wurde.
»Die Entstehung vieler Kinderkrankheiten ist, ebenso wie ihr Verlauf, in hohem Maße abhängig von der sozialen Situation, in der sich das Kind befindet. So wurde ich zum Studium der sozialen Krankheitsursachen und der sozialen Methoden ihrer Bekämpfung geführt, also zu dem Gebiet, das man als Soziale Hygiene bezeichnet.« [1]
Zitat von Gustav Tugendreich aus seinem Werdegang 1936
Am 21. Januar 2018 jährte sich zum 70. Mal der Todestag des jüdischen Kinderarztes Gustav Tugendreich, einem Wegbereiter der modernen Sozialpädiatrie in Deutschland. Obgleich der Name regelmäßig in Beiträgen zur historischen Entwicklung des Faches auftaucht [2 – 4], dürfte den meisten das Leben und Wirken Gustav Tugendreichs weitgehend unbekannt sein. Bereits vor 50 Jahren beklagte Johannes Pechstein in einem Artikel anlässlich seines 20. Todestags: "Kaum ein jüngerer Arzt kennt heute den Namen von Gustav Tugendreich, jenem deutschen Pädiater, den die deutsche Reichsregierung 1931 als "Schöpfer der offenen Kleinkinderfürsorge" und als eine der bedeutendsten ärztlichen Persönlichkeiten der vorangegangenen 100 Jahre ehrte – der jedoch wenig später aus Deutschland verstoßen wurde und hier zunächst dem Vergessen anheimfiel" [5].
Herkunft, Studium und erste berufliche Stationen
Gustav Tugendreich wurde am 21. Oktober 1876 in Berlin als Sohn des Kaufmanns Joseph Tugendreich und seiner Frau Cäcilie (geb. Wolfheim) geboren. Nach dem Abitur studierte er Medizin in Berlin (Approbation 1901) und promovierte 1902 an der Universität Leipzig mit einer Doktorarbeit zur Krebsstatistik in Ost- und Westpreußen. Als junger Assistenzarzt arbeitete Tugendreich zunächst bei Heinrich Finkelstein am Städtischen Kinderasyl und Waisenhaus und bei Adolf Baginsky am Kaiser- und Kaiserin-Friedrich-Kinderkrankenhaus. Von 1906 bis 1919 leitete er die neu gegründete Säuglingsfürsorgestelle V in Berlin Prenzlauer Berg. Von 1919 bis 1921 war er Nachfolger Alfred Grotjahns als Leiter der Sozialhygienischen Abteilung im Berliner Hauptgesundheitsamt, nachdem jener auf den ersten Lehrstuhl für Sozialhygiene an die Charité berufen worden war [6].
Wichtige Publikationen und Auszeichnungen
Zu seinen herausragenden wissenschaftlichen Werken zählt das 1909/1910 veröffentlichte Handbuch "Die Mutter- und Säuglingsfürsorge" [7]. Dieses wurde später von Theodor Hellbrügge und Johannes Pechstein wiederholt als "Magna Charta der Säuglingsfürsorge" bezeichnet [8]. Es beginnt mit dem programmatischen Satz "Säuglingsfürsorge ohne Mutterfürsorge ist Stückwerk" [7]. Ein wichtiger Meilenstein der deutschen Sozialhygiene war der 1912/1913 gemeinsam mit Max Mosse herausgegebene Sammelband "Krankheit und soziale Lage", der das bereits damals vorhandene Wissen über den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Gesundheit zusammenfasste [9]. Gemeinsam mit Adolf Gottstein veröffentlichte Tugendreich 1918 das Buch "Sozialärztliches Praktikum", einen Leitfaden, der sich an eine breite Fachleserschaft richtete (im Untertitel genannt: Verwaltungsmediziner, Kreiskommunalärzte, Schulärzte, Säuglingsärzte, Armen- und Kassenärzte) [10]. Darüber hinaus publizierte Tugendreich zahlreiche Beiträge in wichtigen Fachzeitschriften, darunter besonders häufig in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift, im Archiv für Kinderheilkunde, der Berliner Klinischen Wochenschrift und der Zeitschrift für Säuglingsschutz. Besonders die Stillförderung [11, 12] und die Kleinkinderfürsorge [13, 14] lagen ihm dabei am Herzen. Eine besondere Ehrung wurde Tugendreich 1930/1931 zuteil, als er im Rahmen der II. Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden von der deutschen Reichsregierung ausgezeichnet und in die Ehrenriege der Forscher aufgenommen wurde, die sich in den vorangegangenen 100 Jahren am meisten um die Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens verdient gemacht hatten [1, 15].
Familie und Emigration
Tugendreich war Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde sowie 1931 Gründungsmitglied und Schatzmeister der Berliner Gesellschaft für Kinderheilkunde [16]. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten sah er sich gezwungen, dieses Amt niederzulegen, trat aus beiden Fachgesellschaften aus und verlor nach mehr als 25 Dienstjahren auch seine Anstellung als Leiter der Säuglingsfürsorgestelle Prenzlauer Berg. Tugendreich hatte 1922 im Alter von 46 Jahren Irene Frederika Fontheim geheiratet und war 1923 und 1925 Vater zweier Kinder geworden (Brigitte und Thomas) [17]. 1935 reiste er mit dem befreundeten jüdischen Kinderarzt Alfred Beutler nach Palästina, um die Bedingungen einer Übersiedlung zu prüfen, kehrte jedoch wieder nach Berlin zurück [17]. Mit Unterstützung der amerikanischen und britischen Quäker – mit ersteren hatte Tugendreich nach dem Ersten Weltkrieg bei der Durchführung der großen Kinderhilfsmission zur Verbesserung der Ernährungssituation der Kinder in Deutschland zusammengearbeitet – gelang Tugendreich schließlich mit seiner Familie die Emigration in die USA [5]. Es gab in den einschränkenden amerikanischen Immigrationsgesetzen jener Zeit nämlich ein Schlupfloch, nach dem eine Person, die eine Position an einer fremden Universität für ein Jahr innehatte und eine Position an einer amerikanischen Universität für ein Jahr zugesichert bekam, die Wartelisten umgehen konnte und nicht mehr vom Immigrationsquotensystem abhängig war [18]. Um die Anforderungen zu erfüllen, ging Tugendreich zunächst ohne seine Familie für ein Jahr (1937/1938) nach England. Er erhielt ein Stipendium und arbeitete bei Major Greenwood in der "Division of Epidemiology and Vital Statistics" an der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Im Spätsommer 1938 reiste Tugendreich mit dem Schiff SS Statendam von South Hampton in die USA, seine Frau und die beiden Kinder folgten ein halbes Jahr später mit der SS Hansa. Im Mai 1939 war die Familie Tugendreich in New York wieder vereint. Ein (Halb-)Bruder Gustav Tugendreichs, Julius Tugendreich, der als Zahnarzt in Berlin gearbeitet hatte, überlebte die Nazi-Diktatur nicht. Er wurde deportiert und starb 1942 im Ghetto von Theresienstadt.
Letzte Lebensjahre und Tod
In den USA arbeitete Tugendreich zunächst mit der Sozialwissenschaftlerin Hertha Kraus (1897 – 1968) zusammen am renommierten Bryn Mawr College in Philadelphia/Pennsylvania [19]. Kraus, die als junge Frau aus der israelitischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten war und sich der Lebens- und Glaubensgemeinschaft der Quäker angeschlossen hatte, war bereits 1933 aus Deutschland emigriert und seit 1936 Professorin für Social Work and Social Research in Bryn Mawr [20]. Ihren Bemühungen ist es wohl insbesondere zu verdanken, dass Tugendreich und seine Familie in die USA emigrieren konnten [5].
Die letzten Lebensjahre waren den Schilderungen seiner Frau und seines Sohnes zufolge für Tugendreich nicht einfach [5, 18]. Er war zwar noch in unterschiedlichen Institutionen tätig, konnte aber nicht mehr das amerikanische Examen machen, um als Mediziner zu arbeiten. Als die Familie 1944 nach Los Angeles zog, war er gesundheitlich bereits stark angeschlagen, denn eine Herzkrankheit machte ihm schwer zu schaffen.
Am 21. Januar 1948 starb Gustav Tugendreich im Alter von 71 Jahren, ohne dass er noch einmal nach Berlin oder Deutschland zurückgekehrt war. Sein Grab befindet sich auf dem Hollywood Forever Cemetery, einem Friedhof auf dem auch einige der bekanntesten Hollywoodgrößen begraben sind.
Der deutsch-jüdische Kinderarzt Stefan Engel, der zusammen mit Erich Nassau 1930 die Zeitschrift "Kinderärztliche Praxis" begründete, forderte 1927: "Jeder Kinderarzt, der seine Aufgabe voll erfasst, muss gleichzeitig Sozialarzt sein." Gustav Tugendreich ist in seinem Leben und Wirken diesem Anspruch mehr als gerecht geworden. Die deutsche Sozialpädiatrie sollte den Anspruch haben, die Erinnerung an ihn wach und sein Andenken in Ehren zu halten.
Interessenkonflikt: Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt in Zusammenhang mit diesem Beitrag besteht.
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2018; 89 (3) Seite 206-208