Die Rolle der Sozialpädiatrie für den Kompetenzerwerb junger Pädiaterinnen und Pädiater aus der Sichtweise einer engagierten Auszubildenden.

Welche Rolle spielt die Sozialpädiatrie für den Kompetenzerwerb junger Pädiaterinnen und Pädiater?
Eine große Rolle, meint Dr. Tilman Köhler, Ärztlicher Leiter des SPZ Mecklenburg in Schwerin, da Sozialpädiatrie eher eine „detektivische“ und vor allem vorausschauende Kindermedizin repräsentiert. Das untermauert auch Dr. Victoria Maria Rotering, Ärztin in Weiterbildung, weil sie in der Sozialpädiatrie ihre Vorstellungen des ärztlichen Wirkens – bis hin zu einer vollständigen Lebensanamnese – deutlich besser umsetzen kann als in der Akutpädiatrie. In zwei Texten stellen wir in einer gekürzten Fassung, die sich auf die Potenziale eines Ausbildungsabschnitts im SPZ beschränkt, die Sichtweise eines erfahrenen Ausbilders und einer engagierten Auszubildenden dar. Die Sicht der Auszubildenden lesen Sie im Folgenden, zur Sichtweise des Ausbilders hier klicken.

Es gibt viele Gründe, als junge Pädiaterin auch einen Ausbildungsabschnitt im SPZ zu machen:

  • Das hohe Patientenaufkommen im Krankenhaus mit akutem Therapiebedarf, verkürzten Aufenthaltszeiten und einem zunehmenden Dokumentationsaufwand führen zu einer zeitlichen Verknappung, die die Aus- und Weiterbildung in der Akutpädiatrie mehr und mehr erschwert.
  • Neben den in der Definition von Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) genannten Beeinträchtigungen kommen erschwerend weitere entwicklungsgefährdende Faktoren und widrige Umstände der vorgestellten Patienten hinzu. Im SPZ lernt man mit Hilfe eines interdisziplinären und multimodalen Therapiekonzeptes, die bestmögliche Förderung, Entwicklung, soziale Teilhabe und Zukunftsperspektive für die Kinder zu schaffen.
  • Wer besondere Freude bei der Betreuung von seltenen Erkrankungen empfindet, kommt ebenfalls nicht zu kurz. Die Krankheitsbilder reichen von emotionalen, psychosozialen über genetische, perinatale, Stoffwechsel- bis hin zu neurologischen Erkrankungen. Zudem fordern die differenzialdiagnostischen Überlegungen das Hirn, und die Lebensschicksale berühren das Herz.
  • Im SPZ wird man mit dem sozialrechtlichen System und den entsprechenden Ämtern des bundesdeutschen Staates vertrauter.

Mein Rückblick auf die Zeit im SPZ

In der Sozialpädiatrie konnte ich meine Vorstellungen und den Anspruch an mein ärztliches Wirken deutlich besser umsetzen als in der Akutpädiatrie. Im stationären Bereich blieb mir nicht ausreichend Zeit, um neben der akuten Erkrankung auch die psychosozialen Begleitfaktoren berücksichtigen zu können. Im SPZ war ich dankbar, dass ich mich der Therapie auf mehr als nur der körperlichen Dimension widmen konnte. Ich hatte endlich Zeit für eine vollständige Lebensanamnese.

Es war für mich täglicher Beweis des bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells. Psyche und Soma beeinflussen sich wechselseitig und die Erkrankung des Kindes (ob primär somatisch oder primär psychisch) stellt häufig einen wichtigen Stabilisator für das Familiensystem dar. Sie scheint eine schlüssige Konsequenz der Lebensumstände zu sein.

Wenn man die Funktion einer Erkrankung in diesem System versteht, wird das Verhalten der Kinder nachvollziehbar und kontext-adäquat. Daher weiß ich meine Ausbildung im SPZ umso mehr zu schätzen!

Resümée

  1. Mit Blick auf die Fragestellungen der Familien, die sich ans SPZ wenden, wird deutlich, welche Chancen und Potenziale die Sozialpädiatrie bietet, um die essenziellen Fähigkeiten einer guten Kinder- und Jugendärztin, eines guten Kinder- und Jugendarztes auszubilden.
  2. Die Sozialpädiatrie leistet einen zentralen Beitrag für die Zukunft unserer Gesellschaft und der kommenden Generation.



Korrespondenzadresse
Dr. med. Victoria Maria Rotering
Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin
Königstraße 1
48691 Vreden

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (5) Seite 189