Teil 2 der Kongress-Berichterstattung zum Kongress für Kinder- und Jugendmedizin 2021 in Berlin aus sozialpädiatrischer Sicht. Diesmal stehen die Themen „Frühe Hilfen“ und „Transkulturelle Pädiatrie“ im Blickpunkt.
Diese Bilanz kann sich durchaus sehen lassen: Das Netzwerk Frühe Hilfen ist mittlerweile über alle Regionen der Republik gespannt. Auch 75 % der pädiatrischen Praxen sind bundesweit bereits Bestandteil des Systems der Frühen Hilfen. Dennoch sind die Frühen Hilfen noch nicht aus der Pubertät herausgekommen und müssten sich ständig weiterentwickeln, um auf Dauer alle Ziele erreichen zu können.
Dieses Fazit zum Status-Quo der Frühen Hilfen hat Dr. Heidrun Thaiss, Sozialpädiaterin und bis vor kurzem Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) am Ende der DGSPJ-Veranstaltung „Frühe Interventionen … helfen“ beim Kongress für Kinder- und Jugendmedizin 2021 in Berlin gezogen. Dennoch müsse herausgestellt werden, dass seit Inkrafttreten des Bundeskinderschutzgesetzes 2012 zum ersten Mal eine schon weitgehend gut funktionierende Schnittstelle zwischen Medizin, Sozialarbeit und den Jugendämtern geschaffen werden konnte, bekräftigte Ilona Renner vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen.
Das Angebot der Frühen Hilfen richtet sich an Familien in Belastungssituation – von Beginn der Schwangerschaft an bis zum Alter von 3 Jahren – und wird seit 2018 pro Jahr mit 51 Millionen über die Bundesstiftung Frühe Hilfen gefördert. Für Dr. Ulrike Horacek, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ sind die Frühen Hilfen „ein Paradebeispiel für einen gelungen sozialpädiatrischen Ansatz durch interdisziplinäre Zusammenarbeit.“
Nach den von Renner in Berlin vorgestellten Ergebnissen einer Umfrage unter 815 Pädiatern sehen 77 % unter ihnen die Frühen Hilfen als Entlastung für die eigene Tätigkeit an. Dies trifft insbesondere bei familiär besonders belasteten Familien, bei Alleinerziehenden und bei Eltern mit geringen Deutschkenntnissen zu.
Niedrigschwellige Angebote für belastete Familien
Brandenburg ist hierbei ein Modellbeispiel für die Etablierung der Frühen Hilfen, hieß es in Berlin. In dem Bundesland haben sich mittlerweile 21 Regionalnetzwerke gebildet, in denen 1.000 Familien und 4.200 Kinder betreut werden, erläuterte Prof. Gabriele Elsäßer, die in Brandenburg die Netzwerke und eine landesweite Koordinierungsstelle mit aufgebaut hat. Eckpfeiler der Frühen Hilfen sind zum einen niedrigschwellige Angebote für belastete Familien (Schwangeren-Treffs, Still-Cafés) sowie der Einsatz von geschulten und ehrenamtlichen 1.000 Familienpaten. Diese würden unter anderem auch für Hausbesuche eingesetzt, die vom Erstkontakt an bis zum 33. Lebensmonat in regelmäßigen Abständen stattfinden. Bei diesen aufsuchenden Hilfen stehen dann zum Beispiel die Überprüfung des Impfstatus oder die Inanspruchnahme von Früherkennungs-Untersuchungen im Fokus. Dabei hat sich herausgestellt, dass Familien aus den Frühen Hilfen bei fast allen Gesundheitsparametern überdurchschnittlich gut abschneiden, berichtete Elsäßer in Berlin. Zum Beispiel bei der Impfquote – und das über alle Sozialstatusgruppen hinweg.
Allerdings gebe es überall noch Verbesserungsbedarf. Familien etwa, in denen die Eltern selbst psychisch krank sind, konnten bislang kaum erreicht werden, weil psychiatrische Dienste und Berufsgruppen bisher nur sporadisch einbezogen sind. Robert Schlack vom Robert Koch-Institut, der zusammen mit Ulrike Horacek die Veranstaltung „Frühe Interventionen ... helfen!“ moderierte, bestätigte ebenfalls, dass der gesamte Psycho-Kontext „immer noch ein stark unterschätztes Thema“ innerhalb der Frühen Hilfen sei.
Dr. Stephanie Boßerhoff, Chefärztin des Sozialpädiatrischen Zentrums Niederrhein im Marienhospital Wesel, wies zudem darauf hin, dass die Angebote – falls sie bereits existierten – viel zu wenig vernetzt sind. Ihrer Meinung nach müsste insbesondere der große Bereich der Erwachsenenpsychiatrie mit in die Angebote der Frühen Hilfen mit einbezogen werden, da viele Eltern von Kindern, die Angebote der Frühen Hilfen in Anspruch nehmen, selbst psychisch auffällig oder psychisch krank sind. Daher sei es zum Beispiel notwendig, Abteilungen von der Erwachsenenpsychiatrie, die gemeindepsychiatrischen Dienste oder auch die Drogenberatungsstellen mit einzubeziehen.
Geradezu alarmierend sei es, dass im Jahr 2020 im Durchschnitt lediglich 6 % der möglicherweise gefährdeten Kinder erreicht werden konnten.
Darauf wies Prof. Adolf Windorfer aus Hannover, ehemaliger Leiter des Landesgesundheitsamtes in Niedersachsen, hin. Zu dieser Erkenntnis hat eine standardisierte Dokumentation für niedersächsische Fachkräfte der Frühen Hilfen im Rahmen ihrer aufsuchenden Arbeit in 22 Kommunen geführt, ergänzt durch eine Umfrage bei 250 Fachkräften Frühe Hilfen. 77 % der Mitarbeiter in den Frühen Hilfen sind daher nach den Ergebnissen der Erhebung der Meinung, dass dem Thema „Traumatisierung der Eltern“ künftig mehr Beachtung geschenkt werden müsse.
Zu Recht warf Adolf Windorfer in Berlin die Frage auf, ob die „Frühen Hilfen am Scheidweg angekommen“ sind?“ Das sahen auch Teilnehmer des Sozialpädiatrie-Kongresses so, die beklagten, dass die Angebote der Frühen Hilfen zum Beispiel bei ihnen in den Sozialpädiatrischen Zentren noch nicht richtig greifen würden.
Um dies in Zukunft zu verbessern, wurden am Ende die Umsetzung folgender Maßnahmen von den Referenten und teilnehmenden Pädiatern gefordert:- Der Bekanntheitsgrad der Frühen Hilfen muss weiter intensiviert werden, um deren Reichweiten zu verbessern. Selbst im Modellland Brandenburg werden immer noch zu wenige Familien erreicht.
- Die Mitarbeiter der Frühen Hilfen sollten Kinder- und Jugendärzte genauso über den jeweiligen Status eines Kindes informieren, wie dies nach langem Ringen nun von den Jugendämtern praktiziert wird.
- Um über die Frühen Hilfen insgesamt mehr belastete Familien zu erreichen, müssten nach dem Modell in Brandenburg deutlich mehr Familienpaten und Gesundheitsfachkräfte wie „community-nurses“ ausgebildet und für die Aufsuchenden Hilfen im Rahmen der Frühen Hilfen rekrutiert werden.
Die Frühen Hilfen als Erfolgsmodell seinen von höchster Bedeutung, da sie in der Pädiatrie und im gesamten Gesundheitssystem eine „Blaupause“ für einen ganzheitlichen Ansatz darstellten, bekräftigte Heidrun Thaiss abschließend. Nirgendwo sonst würden die Kompetenzen aus unterschiedlichen Bereichen – auf niedrigschwelliger Ebene – so gut an einer Schnittstelle zusammengeführt. Daher sei es besonders wichtig, jetzt rasch die beim DGSPJ-Kongress klar benannten Defizite in Angriff zu nehmen und möglichst auch zu lösen.
Transkulturelle Pädiatrie – Probleme und Chancen
Große Versorgungsprobleme in noch ganz anderer Dimension offenbarten sich beim Berliner Kongress der DGSPJ bei der Session „Transkulturelle Pädiatrie.“ Zum Beispiel über migrationsspezifische Zugangsbarrieren zur ambulanten Versorgung, die Frau Prof. Dr. phil. Liane Schenk vom Lehrstuhl für Versorgungsforschung für vulnerable Gruppen am Institut für Medizinsoziologie und Rehabilitationswissenschaft an der Charité in Berlin in den Fokus ihres Vortrags rückte.
Anhand der Daten der KIGGS-Studie zeigte sie auf, dass 25 % der bisher im Rahmen von KIGGS untersuchten Kinder einen Migrationshintergrund haben, 8,2 % unter ihnen einen einseitigen und 17,6 % einen beidseitigen Migrationshintergrund. Ganz grundsätzlich würden insbesondere Kinder und Jugendliche mit beidseitigem Migrationshintergrund in der Gesundheitsversorgung vernachlässigt. So hätten diese zum Beispiel eine um 0,67-fach verringerte Chance auf einen Facharztkontakt im Vergleich zu Kindern ohne Migrationshintergrund. Je kürzer die Aufenthaltsdauer dieser Kinder mit beidseitigem Migrationshintergrund hierzulande ausfalle, desto geringer sei die Chance auf einen Facharztkontakt. Auch fielen die Zufriedenheitswerte dieser Kinder deutlich schlechter aus. Dies ist laut Liane Schenk selbst dann der Fall, wenn bei diesen Kindern sehr gute Deutschkenntnisse vorliegen und wenn diese schon länger in Deutschland lebten. Besonders sei dies bei Kindern aus der früheren Sowjetunion und aus Polen der Fall. Die Sprachbarriere sei damit ein ausgesprochen limitierender Faktor, der den Zufriedenheitsgrad weiter schmälert.
Um hier Verbesserungen zu erzielen, erhoben Liane Schenk und die weiteren Referenten auf der Veranstaltung in Berlin am Ende die folgenden Forderungen:- Sprach- und Kulturmittler sollten generell als Regelleistung der Kassen anerkannt und finanziert werden. Dies wäre der effektivste Weg, um die Zugänge zur ambulanten Versorgung für Kinder mit Migrationshintergrund zu verbessern. Erste positive Ansätze in diese Richtung seien 2021 auf dem Ärztetag und bei einer Bundestagsanhörung zu Beginn des Jahres bereits erfolgt.
- Das kulturelle Kompetenztraining sollte für all diejenigen Ärzte, die Kinder mit Migrationshintergrund behandeln, spürbar verbessert werden.
- Da eine interkulturelle Behandlung und insbesondere gedolmetschte Gespräche überdurchschnittlich viel Zeit benötigen, müssten diese Leistungen künftig besser honoriert werden.
- Für Dolmetscherleistungen sollte es künftig zudem eine einheitliche Finanzierung geben. Dies treffe auch für Videodolmetscher zu, die gerade in Pandemiezeiten eine besondere Bedeutung erlangt hätten.
Dr. Thorsten Langer, der die Sitzung „Transkulturelle Pädiatrie“ mit leitete, wollte bei der Veranstaltung diesmal ganz bewusst die organisatorischen und strukturellen Faktoren herausstellen, die die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte prägen. Bisher seien zumeist die Kommunikationskompetenzen von Mitarbeitern Thema gewesen, weil diese „auch dem täglichen Handeln näherstehen.“ Aber um kommunikative Kompetenzen überhaupt einbringen zu können, hänge es nun mal häufig davon ab, ob beispielsweise eine geschulte Dolmetscherin zur Verfügung steht. Und hierbei hakt es oft, weil in vielen Fällen Regeln und Standards gelten, die mit ärztlich-ethischen Standards nicht vereinbar sind. Langer: „Darauf wollten wir den Blick lenken.“ Die Resonanz am Kongresstag sowie die breite Berichterstattung in den Medien zeige, dass dies wohl gelungen ist.
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (1) Seite 47-51